Das Babylon-Virus
Vorschein, unberührt von der Erde, die den Schrein bald zwei Jahrhunderte in ihrer Umklammerung gehalten hatte. Amadeo setzte die Hacke an wie ein Brecheisen, bog die Bretter nach oben. Einen Moment lang leisteten sie Widerstand, dann gaben sie dem Druck nach. Schwer atmend richtete Amadeo sich auf. Ein schmaler Spalt war zwischen den Brettern entstanden.
Rebeccas bleistiftdünner Lichtstrahl fand einen Weg durch die Bresche, glitt über eine ungleichmäßige, helle Oberfläche, die aussah wie alte Lumpen. Amadeo suchte nach einem neuen Ansatzpunkt für sein Werkzeug. Zweimal rutschte er ab, dann zwang er das Holz beiseite. Kalter Schweiß lief ihm in die Augen.
Es war tatsächlich das Kopfende, auf den Stein zu. Der Leichnam in einem farblosen Mantel von altertümlichem Schnitt war gut erhalten für sein Alter. Schmal und eingefallen, mit Haaren wie verfaultes Stroh, sah der Schädel aus einem gerüschten Kragen hervor. Die Augenhöhlen waren leer, doch über dem eingetrockneten Hals, den Kiefer- und Wangenknochen spannte sich noch dünn wie Pergament die Haut des Toten, die um den Mund herum zurückgewichen war. Der Leichnam grinste - so sah es aus. Ein siegesgewisses Grinsen. Ertappt!, schien der Tote zu wispern.
Amadeo schauderte. August von Goethe war nicht der erste jahrhundertealte Leichnam, mit dem er nähere Bekanntschaft machte, doch das war kein Anblick, an den man sich irgendwann gewöhnte - er jedenfalls nicht. Und die Umstände …
»Siehst du irgendwas?«, flüsterte Rebecca.
Amadeo sah eine Leiche, doch er wusste, dass sie das nicht meinte. Vorsichtig ließ er sich wieder auf die Knie nieder, stützte sich auf den unbeschädigten Rand des Schreins und schob die Reste des Sargdeckels beiseite, bevor er seine Hand hinab in die Höhlung zwang. Seine Finger waren eiskalt, doch er spürte die Struktur des Stoffes, steifes Leinen, brüchig vom Alter.
Die Hände des Toten waren über der Brust ineinandergelegt. Amadeo versuchte sich zu erinnern, ob das den Bestattungssitten in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entsprach, fand aber keine schlüssige Antwort. Und da
war etwas, ein kleiner, dunkler Gegenstand, halb versunken zwischen den Falten des Mantels, der viel zu weit geworden war für den knöchernen Leib des Toten.
»Geh bitte mal hierhin mit dem Licht«, sagte der Restaurator leise.
Rebecca gehorchte. Der Gegenstand war rechteckig, etwas größer als eine Zigarettenschachtel. Als Amadeo ihn widerstrebend unter den Fingern der Leiche hervorzog, stellte er fest, dass es ein kleines Büchlein war.
»Was ist das?«, wisperte Rebecca. »Eine Bibel?«
»Zu klein«, murmelte Amadeo. Es konnte ein Neues Testament sein, die Psalmen oder ein Katechismus, irgendeine Art von Brevier. Ganz vorsichtig schlug er die Seiten auf. Ein gedruckter Text und … Notenlinien! Eine musikalische Komposition! Ein Kirchengesangbuch vielleicht, das man dem Toten mit ins Grab gegeben hatte? Amadeo kniff die Augen zusammen, betrachtete den Text unter der Notenlinie. »Das ist keine Fraktur«, sagte er leise.
Der Lichtstrahl zitterte. Wahrscheinlich waren es Rebeccas Hände, die zitterten. Jedenfalls hat er kein hohes Fieber, hatte Möbius an Helmbrechts Krankenlager gemurmelt. Anders als andere Patienten.
»Keine Fraktur?«, fragte Rebecca. »Ist das Buch beschädigt?«
Amadeo schüttelte den Kopf. Beschädigt war es außerdem; einige der hintersten Blätter schienen sich aus dem Einband gelöst zu haben. Doch das hatte er nicht gemeint. »Die Schriftart«, murmelte er. »Die Schriftart ist keine Fraktur. Du weißt schon, die altdeutsche Schrift. Bis in Goethes Zeit war das absolut die Norm im Buchdruck, wenn man nicht gerade lateinische Texte druckte. Aber das hier ist keine Fraktur. Das ist eine Antiqua.«
»Und das bedeutet?«
Amadeo schwieg, versuchte einige Buchstaben zu entziffern. » Estranged «, flüsterte er. » Never to be found. «
»Englisch?«
»Das passt zur Schrift.« Amadeo blätterte einige Seiten vor. Soweit er erkennen konnte, waren die Worte komplett in englischer Sprache geschrieben - gesetzt in den Lettern der Antiqua. »In anderen Ländern war die Antiqua viel früher und viel stärker in Gebrauch als in Deutschland«, murmelte er. »Dieses Buch kommt nicht aus Deutschland.«
»Kaum überraschend, wenn es englisch ist.« Rebeccas Zittern hatte sich verstärkt. »Was ist es denn für ein Buch?«
Amadeo schlug das Bändchen ganz am Beginn auf, versuchte den Titel zu lesen,
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