Das Babylon-Virus
hielt er einen Text in der Hand, der ihn dem Ziel einen entscheidenden Schritt näherbringen konnte: der Pforte, dem Pass, eingeschnitten ins Gebirge …
Amadeo erstarrte.
» From Bukhara to Samarkand «, flüsterte er.» To where a valley doeth extend / carved in the shoulders of the mount / estranged, never to be found. «
»Das steht da?« Rebecca stand ebenfalls, allerdings nur für eine halbe Sekunde, dann kippte sie mit kalkweißem Gesicht zurück in ihren Stuhl.
»Unser Präparat geht am Anfang etwas auf den Kreislauf«, murmelte Alyssa. Ihrer Schwester warf sie nur einen Blick aus dem Augenwinkel zu und beugte sich stattdessen über das Brevier. »Man gewöhnt sich dran.«
Rebecca sah nicht aus, als wäre sie schon im Begriff, sich daran zu gewöhnen, doch sie nickte Amadeo zu. »Das steht da?«, wiederholte sie undeutlich.
»Hier!« Amadeos Blick wechselte zwischen ihr und der Partitur.» Von Buchara nach Samarkand,/ wo sich ein Tal ausdehnt,/ das in die Schulter des Berges geschnitten ist,/ in die Fremde hinein, sodass es niemals gefunden werden kann. Sie sind nach Osten aufgebrochen von Babylon aus, aber der Ort … der Ort ist wirklich ein ferner Ort, weit, weit entfernt. Buchara, das ist im innersten Innerasien! Irgendwo in Kasachstan heutzutage oder sonstwo.«
»In Usbekistan.« Alyssa war um den Tisch herumgegangen, drehte das Buch zu sich um. Ihr blutroter Fingernagel fuhr über die Textzeile. »Genau wie Samarkand. Doch keine der beiden Städte liegt im Gebirge.«
Amadeo kramte in halb verschütteten Erinnerungen. Samarkand zählte zu den ältesten Städten der Erde; mit Sicherheit war es die älteste Stadt der Region.
»Die Seidenstraße«, sagte er leise. »Buchara und Samarkand: Beide Städte liegen an der Seidenstraße, der uralten Landverbindung zwischen dem Mittelmeerraum und dem Fernen Osten. Das muss die Route gewesen sein, die die Babylonier genommen haben.«
»Im Gebirge liegen sie deshalb noch immer nicht!«, brummte Alyssa. Nach wie vor starrte sie auf die in einer wirklich hübschen, klaren Antiqua gesetzten Worte, auf die Notenlinien für den Gesang und den basso continuo . »Aber …« Sie zögerte. »Müssen sie überhaupt im Gebirge liegen, wenn der Text den Verlauf einer Straße beschreibt mit einzelnen Stationen, eine nach der anderen? Von Buchara nach Samarkand und weiter, bis dorthin, wo sich ein Tal ausdehnt, das in die Schulter des Gebirges getrieben ist. Wie ging sie weiter, diese Seidenstraße? Buchara, Samarkand - und dann? Wo genau führte sie lang?«
Amadeo schüttelte den Kopf. »Die Seidenstraße dürfen Sie sich nicht wie eine moderne Asphaltpiste vorstellen mit Kilometersteinen und exaktem Verlauf. Im Innern Asiens mit seinen Steppen und Wüsten gab es mindestens ein halbes Dutzend Routen, die annähernd parallel liefen, von einer Oase zur nächsten. Welche Siedlungen man mitgenommen hat, das wechselte. Wenn die Hunnen mal wieder was abgefackelt hatten, oder die Parther oder die Mongolen, musste man ausweichen, nach Norden oder nach Süden. Nur dass sie im Norden noch wüster wurde, die Wüste. Und im Süden gab es zwar jede Menge bedeutende Städte, aber das Gelände wurde immer unübersichtlicher mit den Gebirgszügen des Pamir, des Hindukusch … das berühmte Dach der Welt eben.«
»Gebirgszüge«, sagte Alyssa nachdenklich. »Südlich von Usbekistan. In Afghanistan.«
Amadeo nickte, die Augen auf der Partitur, die für ihn jetzt auf dem Kopf stand. »Allein schon Bactra! Eine der wichtigsten Königsstädte der alten Perser und zeitweise Hauptquartier Alexanders des Großen, zigmal zerstört und wieder aufgebaut. Kennen Sie heute vielleicht aus den Nachrichten, als Masar-e Sharif, seitdem …« Amadeo stutzte, wurde langsamer. »… seitdem die ISAF und die deutsche Bundeswehr dort vor Ort sind.« Zentimeter um Zentimeter hob er den Blick.
Alyssa hatte den Kopf gesenkt, die Augen auf den Text gerichtet. Die Haare fielen ihr vors Gesicht wie ein Vorhang. Ein Vorhang - oder eine Tarnkappe.
»Sie gehören zum militärischen Abschirmdienst der Bundesrepublik Deutschland?«, flüsterte er.
»Wir haben Hinweise.«
Alyssa lehnte mit dem Rücken an der Fensterwand. Ihr Blick ging zwischen Amadeo und ihrer Schwester hindurch ins Nirgendwo - oder vielleicht auch in den Werkstattraum der officina , wo sich der bedauernswerte Fabio Niccolosi seit einigen Minuten vergeblich bemühte, wieder auf die Füße zu kommen.
Natürlich tat der Junge Amadeo leid,
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