Das Babylon-Virus
Jahrhunderte später in New York.
Er blätterte um, betrachtete den Beginn der Komposition. Sie ging nicht im selben Maß ins Detail wie eine klassische Orchesterpartitur, die Bläser, Streicher und so weiter in einzelnen Stimmen auflistete. Lediglich zwei Linien waren angegeben, wobei die obere von ihnen offenbar die Gesangsstimme wiedergab, ausgenommen in den rein instrumentalen Passagen natürlich. Die untere dagegen, eröffnet mit dem Bassschlüssel, war dem basso continuo vorbehalten, der sich durch die gesamte Partitur zog und die Stimmung des Stückes prägte. Amadeo blätterte weiter. Hier setzte die eigentliche Handlung ein, und zur Gesangsstimme waren die Worte verzeichnet.
» Alas, this land, my brethren all: / What place to rest! What place to dwell! «, las er vor. »Das singt … ein Siedler.
« Seine Augen überflogen den Text. Er blätterte um. »Die Menschen, die zu diesem Zeitpunkt noch ein und dieselbe Sprache sprechen, ziehen in ein Land im Osten.«
»Sinear.« Alyssa nickte.
»Hier bei Händel heißt es Shinar , aber das ist nicht ungewöhnlich. Das ist dieselbe Form wie in der englischen King James Bible.« Amadeo blätterte vor zur Mitte des Büchleins. »Davon abgesehen haben wir hier exakt dieselbe Geschichte wie bei Einstein und Goethe, nur noch altertümlicher diesmal und englisch natürlich. Und ziemlich bombastisch.«
»Auch die Komposition?«
Der Restaurator blickte auf. »Das nehme ich doch an. Sie stammt aus dem Barock. Von Händel.«
»Aber genau können Sie das nicht sagen? Ich denke, Sie haben den ganzen Schrank voll mit …«
Er räusperte sich. »Ich liebe die Musik, aber ich bin kein Musiker. Ich hatte nur eine …« Seltsam, plötzlich hatte auch Rebecca die Augen wieder offen. Erwartungsvoll sahen beide Frauen ihn an. »Mundharmonika«, murmelte er. »Fürs Lagerfeuer.«
»Dann haben wir ein Problem«, stellte Rebecca fest. Amadeo staunte. Vor fünf Minuten hatte sie noch mehr tot als lebendig in ihrem - seinem - Stuhl gehangen, jetzt setzte sie sich aufrecht hin, warf einen Blick auf Alyssa. »Du warst jedenfalls musikalisch wie’ne Dose Thunfisch, und wenn ich mich für Musik interessiert hab, war’s welche, die sich elektrisch verstärken lässt.«
»Meine Behörde hat natürlich Fachleute …«, begann Alyssa.
»Wenn wir etwas wissen müssen, fragen wir den Professor«, unterbrach Amadeo sie. So wenig er über Geheimdienste wusste: Ihm war klar, dass er jetzt aufpassen musste. Er war bereit, Alyssa und ihren Hintermännern zu vertrauen
- so weit es eben notwendig war. Dem Professor war zwar ebenfalls jede Art von Manipulation zuzutrauen, aber wenigstens stand seine Integrität nicht in Frage. Und mit Sicherheit konnte er sie an einen Musikwissenschaftler verweisen, der sich mit Händels Oeuvre auskannte.
Doch wichtiger als die Musik war erst einmal etwas anderes. Amadeo schlug das Büchlein am Beginn des dritten und letzten Aktes auf, hatte dabei nicht die Noten, sondern den Text im Auge und versuchte herauszufinden, an welcher Stelle der Geschichte er sich befand. Da war die Rede von der pestilence , die die Boten Gottes über die Menschheit brachten, und von der healing remedy , dem Heilmittel. Eine Gänsehaut stellte sich auf seinen Armen auf.
» Thou shalleth make a silver flagon «, murmelte er. »Der Anführer der Babylonier lässt ein spezielles Gefäß anfertigen für das Heilmittel. Ein flagon kann durchaus ein Krug sein, wie es Goethe übersetzt hat. Er war offenbar aus Silber.«
»Wäre er aus Ton gewesen, hätten wir jetzt ein echtes Problem«, sagte Rebecca.
Amadeo nickte unbehaglich. Daran hatte er noch überhaupt keinen Gedanken verschwendet: Welche Art von Gefäß war in der Lage, die kostbare Substanz über Jahrtausende hinweg sicher zu verwahren? Welche Art von Gefäß, die man im alten Babylon bereits herstellen konnte? Oder war die Passage eher aus der Zeit heraus zu verstehen - aus Händels Zeit? In seiner Barockwelt wäre Silber gerade gut genug gewesen.
Nein! Amadeo zwang seine Augen zurück zum Text. Wenn er erst anfing, logisch zu denken, konnte er auch gleich die Hände in den Schoß legen und abwarten, dass die Seuche Gottes die Menschheit austilgte, endgültig diesmal. Nach logischen Gesichtspunkten war das Spiel von Anfang
an verloren gewesen, und doch hatte er binnen zwei Tagen ebenso viele Codes entschlüsselt, an denen die größten Geister ihrer Generation sich jeweils ein ganzes Jahrhundert lang abgequält hatten. Und nun
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