Das Banner des Roten Adlers
abgrundtiefer Angst, der steigende und wieder fallende Klagelaut
eines unendlichen Schmerzes. Er fasste seinen Spazierstock fester und zwang sich,
still zu stehen und sich darauf zu konzentrieren, aus welcher Richtung der Schrei
gekommen war. Von dort drüben oder vom Wald her? Oder war es
doch ein
Tierlaut, irgendeine Eule, über die er sich
weiter
keine Gedanken
zu
machen
brauchte?
Nein, das war es nicht. Er schluckte und näherte sich geduckt einer Gruppe von
Eichen, die am Rand einer Bodensenke standen. Von dort schien der Schrei gekommen zu sein. Er lauschte angestrengt und erwartete jeden Augenblick, dass ihn
irgendetwas Schreckliches anspringen würde. Doch nichts dergleichen passierte. Er
erreichte den ersten Baum, legte eine Hand an den Stamm und lauschte. Nichts.
Er pochte mit seinem Spazierstock gegen den Stamm. Wieder nichts.
Er ging unter den Bäumen umher und starrte in die Dunkelheit. Nichts bewegte sich.
Die Schatten waren nur Schatten. Hier war nichts, was ihm hätte übel mitspielen
oder diesen schrecklichen Schrei hätte ausstoßen können.
Vorsichtig verließ er wieder die Baumgruppe und sah sich im weiteren Umkreis um.
Nichts, nur Schatten, Stille und der Sternenhimmel.
Er
ließ
einen
langen
leisen,
unsicheren
Pfiff
ertönen,
ehe er
zum
Schloss
zurückkehrte und sich schlafen legte.
Am Abend vor der Krönung herrschte im Schloss und in der Stadt eine emsige
Betriebsamkeit. In der Schlossküche legten die Konditoren letzte Hand an die eindrucksvollen Torten und Pasteten, die den Tisch beim Staatsbankett dekorieren
würden, und im Eiskeller schnitzte ein Künstler an einem mächtigen Eisblock, der
aus St. Petersburg stammte und seit dem Winter hier gelagert worden war. Wenn
das Kunstwerk fertig war, sollte es den Dom von Eschtenburg darstellen. Falls es am
Krönungstag aber doch zu heiß werden und zu viel Eis schmelzen sollte, würde es
der Künstler rasch in die gezackte Silhouette des Felsens von Eschtenburg verwandeln, einschließlich Seilbahn und kleiner Adlerfahne.
In den Ställen wurden die Pferde gefüttert und getränkt, wurden Schweife und
Mähnen gestutzt und gekämmt. Die Staatskarosse war bereits geölt, poliert und neu
vergoldet, die Räder waren neu bereift, die Sitze mit frischem Rosshaar gepolstert
worden. In der Stadt hatten die Bürger die Straßen gekehrt, die Blumen vor den
Fenstern gegossen und zur Straßenseite hin jede Fensterscheibe so lange geputzt,
bis sie spiegelte. Am Seerosenteich im Stralitzky-Park bereiteten neapolitanische
Feuerwerker die Zünder und die drehenden Räder für das abendliche Feuerwerk
vor. Im Dom probte der Chor. Das Orchester des Opernhauses spielte das Programm
für den Krönungsball durch, darunter auch den Andersbader Walzer von Johann
Strauß dem Jüngeren. Die Wachen vor dem Schloss marschierten, salutierten und
präsentierten die Waffen noch zackiger als gewöhnlich, während die raskawischen
Polizisten mit hochgezwirbelten Schnurrbärten und strengen Mienen in den Straßen
patrouillierten. In den Gasthöfen, Restaurants und Bierkellern prüften die Wirte ihre
Vorräte an
Wein,
Bier
und
Wild.
In
den
Schenken
und
Reporter
Journalisten
aus
ganz
Europa
-
und
sogar
zwei
sammelten
wie
gewohnt
über
einem
Glas
Kaffeehäusern
saßen
aus
Amerika
-
und
Hochprozentigem
plaudernd
Informationen über Land und Leute und politische Hintergründe.
In
der
Sakristei
des
Doms,
in
der die
Fahne seit
dem
Tod
des
alten
Königs
aufbewahrt wurde - nur in der Zeit zwischen dem Tod des alten Königs und der Krönung seines Nachfolgers wehte sie nicht über der Stadt -, gingen die Nonnen von St.
Agnes mit Nadel und Faden über das Tuch und flickten jeden Riss und jedes kleine
Loch; verstärkten jede Naht; gaben dem alten Adler mit neuer roter Seide frische
Farbe und verzierten den Rand mit neuen goldenen Quasten. Derweil saß das Paar,
um das sich alles drehte, der neue König und seine junge Königin, an einem kleinen
Tisch und vertrieben sich unter Klatschen, Lachen und Stöhnen die Zeit mit einem
Kinderspiel. Becky saß wie ein Kindermädchen daneben und schaute ihnen zu. Das
Spiel hieß Mahlstrom. Becky und Adelaide hatten es schon gespielt, ehe der König
eingetreten war. Eigentlich hatte Adelaide Lust auf eine Partie Schach gehabt, aber
Becky verlor immer. Adelaide hatte ein Buch mit Schacheröffnungen gefunden - die
Notierung der Spielzüge konnte sie bereits lesen - und besaß nicht die Geduld,
gegen eine Anfängerin zu spielen. Aus diesem Grund waren
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