Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
beobachtete. Am Nachmittag ging der Unterricht
bei der Gräfin weiter: über das Verhalten, das von einer Königin beim Begräbnis des
verstorbenen Königs erwartet wurde; über die Begrüßung ausländischer Staatsoberhäupter; über den richtigen Gebrauch von Messer und Gabel, wenn Stör auf
dem Menüplan stand ... Adelaide folgte allen Belehrungen mit eiserner Geduld.
Unterdessen brannte die ganze Stadt darauf, sie zu Gesicht zu bekommen. Die
Neugierde war groß, deshalb lohnte es sich, jeden Besucher zu empfangen und höflich zu ihm zu sein. Adelaide beherzigte Jims Ratschlag und bat Gräfin Thalgau, für
ein paar Auftritte in der Öffentlichkeit zu sorgen: im Dom, um die Vorbereitungen
für das Begräbnis des Königs zu besichtigen; im Rosenlabyrinth in den Spanischen
Gärten am Fluss, um eine Statue zu enthüllen; im Spital zur Eröffnung eines neuen
Krankentrakts. Ein paar Zeitungen nahmen sich heraus, sie wegen dieser Auftritte zu
kritisieren; es gehöre sich nicht für eine Königin, in einer Zeit der Trauer so oft in der
Öffentlichkeit aufzutreten. Doch die Kritik wurde durch den Respekt aufgewogen,
den Adelaide gewann. Wenn sie ihre Kutsche anhalten ließ, um bei einer alten
Blumenfrau Rosen zu kaufen, und sich bei ihr mit einem Lächeln bedankte, wenn sie
ein
Spital
besuchte und
den
Kranken
die Hand
schüttelte,
wenn
sie kleine
Geschenke für die Kinder eines Waisenhauses erstand, immer gewann sie neue
Herzen. Mehr als der König, das stand fest. Sie strahlte Freundlichkeit aus und war
einfach und ungekünstelt, während Rudolf in der Öffentlichkeit steif und befangen
wirkte. Becky betrachtete ihn mit Sympathie, aber je mehr er sich bemühte, desto
unbeholfener wirkte er. Und wohin Adelaide auch ging, Becky folgte ihr. Bei Tisch
saß sie hinter ihr, in der Kutsche ihr gegenüber; sie stand hinter ihrem Stuhl, wenn
die Königin
Gäste empfing;
und
jedes
Wort,
das
Adelaide hörte
oder
sprach,
abgesehen von den vertraulichen Worten mit ihrem Ehemann, ging durch Beckys
Mund. Immer dann, wenn Adelaides Taktgefühl nicht ausreichte oder ihre Geduld
am Ende war, fand Becky
die
Worte, die von einer Königin erwartet
werden
konnten. Auch beim Austausch diplomatischer Floskeln schmuggelte sie in ihre
Übersetzungen der Besucherworte immer ein oder zwei Sätze, wie zum Beispiel
»Hör auf zu schmollen« oder »Denk an deine Manieren, du Straßengöre« oder »Sag
ihnen doch was Nettes, zum Beispiel wie sehr sie sich bemüht haben«.
    Dabei wusste sie nie genau, ob Gräfin Thalgau etwas mitbekam. Denn die Gräfin war
ebenfalls stets in der Nähe und beherrschte das Englische einigermaßen, aber
anmerken ließ sie sich nichts.
    Bis
Becky
es
eines
Morgens
doch
herausfand.
Sie saß
wie
gewöhnlich
neben
Adelaide im Morgenzimmer, während Gräfin Thalgau ihr die verwandtschaftlichen
Verflechtungen zwischen dem raskawischen Königshaus und anderen europäischen
Herrschergeschlechtern auseinander setzte. Zwischen Adelaide und der Gräfin hatte
sich ein festes Verhaltensmuster eingespielt: Die Gräfin war kühl und pedantisch
und Adelaide kühl und akkurat. Fragen und Antworten liefen über Becky, die sich
wie eine Rohrpost
vorkam,
durch
die
in
großen
Behörden
Rechnungen
und
Rundschreiben hin und her transportiert wurden, so gering war der menschliche
Kontakt zwischen den beiden Frauen. Plötzlich klopfte es und ein Lakai meldete
einen
Besucher:
den
Oberhofmeister
in
Person.
Dieser
entschuldigte
sich
umständlich für die Störung und sagte dann in Englisch und ohne Becky zu beachten:
»Eure Majestät, wir würden Euch morgen gern den neuen Dolmetscher Dr. Unger
vorstellen. Er ist ein ausgewiesener Gelehrter, mit Doktorhüten der Universität
Heidelberg und der Pariser Sorbonne. Auch das raskawische Außenministerium
schätzt seine Kompetenz sehr. Er wird Fräulein Winter ablösen, die zu ihrer Familie
nach London zurückkehren und ihre Studien fortsetzen kann.« Becky machte große
Augen, während sich die der Gräfin Thalgau verengten. Adelaide glühte vor Zorn.
»Was?«, entfuhr es ihr.
    »Da Majestät nicht mehr Prinzessin, sondern Königin sind, erscheint es angemessen,
dass Eurer Majestät ein höher qualifizierter Akademiker zu Diensten steht. Wie die
Dinge liegen, möchten Majestät gewiss Fräulein Winter für ihre Mühe belohnen und
sicherlich wäre auch ein Orden zweiter oder dritter Klasse angebracht. Doch -«
»Von wem stammt diese Idee?«, fragte Adelaide. Ihre Nasenflügel bebten; eine
dunkle Röte war

Weitere Kostenlose Bücher