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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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sich und warf einen kurzen, scheuen
Blick zu Becky, ehe er erläuterte, wie der Richterbund den Weg zu schützen plante.
Nach einer Minute hatte er seine Schüchternheit vergessen und sprach klar und
überzeugend. Becky sah plötzlich einen Anführer, einen zweiten Jim: ruhiger und
nicht so sprühend, sicherlich auch weniger erfahren, aber nicht minder standhaft.
»Unser Problem ist unsere Zahl«, sagte er am Ende. »Wir können sechzig Mann
aufbieten, allerhöchstens dreiundsechzig. Und selbstverständlich haben wir keine
anderen Waffen als unsere Säbel. Als Korpsstudenten haben wir das Recht auf Säbel
oder Degen, aber wir haben keine einzige Pistole.«
    »Könnte ich doch mit euch kämpfen!«, rief Becky. »Können Sie schießen?«, fragte
jemand. »Wenn ich es versuchte, bestimmt.« »Ich bringe es Ihnen bei«, sagte ein
anderer. »Es gibt inzwischen zierliche Pistolen, die in einer Damenhandtasche Platz
finden. Ich habe so etwas schon gesehen.« Becky sah ihn verwundert an. »Wie
kommen Sie darauf, dass ich etwas Zierliches brauche?«, fragte sie. »Liebend gern
wäre ich ein Pirat und würde eine Kanone abfeuern. Aber ich muss bei der Königin
bleiben, sie braucht mich. Ich werde für euch alle die Augen offen halten.«
»Hoffentlich brauchen Sie uns nicht«, sagte Karl. »Denn wenn es so weit käme,
müsste etwas schief gelaufen sein.«
     
»Genug«, sagte Jim. »Ihr habt getan, was ihr konntet.
    Gönnen wir uns jetzt ein Bier. Aber beobachtet weiter die Gasthöfe und vor allem
den Bahnhof ...« Später, als Jim und Becky wieder auf dem Rückweg waren und
gerade die Brücke überquerten, sagte Becky: »Erwartest du wirklich Randale bei der
Krönung?« »Ja. Mir wäre lieber, es gäbe keinen Grund dafür. Aber du scheinst dich
ja regelrecht darauf zu freuen.« »Wie meinst du das?«
»Diese Anspielungen auf Kanonen und dergleichen. Bist du so blutdurstig oder wie
soll man das sonst verstehen?«
    »Ich weiß nicht«, antwortete sie ganz ernsthaft. »Ich hatte bisher keine Gelegenheit,
das herauszufinden. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich kämpfen würde, wenn
ich es müsste. Ich würde nicht nachgeben oder schwach werden und heulen. Die
Leute glauben nicht, dass auch Mädchen mutig sein können, aber ich würde es gern
mal ausprobieren ... Nur einmal, um zu sehen, wie das ist, mein Leben aufs Spiel zu
setzen bei einem Kampf bis aufs Messer. Nicht dass ich Menschen töten wollte, ich
möchte nur über mich selbst Klarheit bekommen. Ich werde mich nie wirklich
kennen, solange ich das nicht ausprobiert habe.«
»Ich glaube nicht, dass Mädchen weniger mutig sind als Männer. Dafür kenne ich
Sally, Mrs Goldberg, zu gut. Und ich denke, dass ich dir in einem Kampf vertrauen
würde.«
»Warum?«
    »Das ist nur eine Vermutung. Weißt du eigentlich, dass du Karl von Gaisberg
ziemlich beeindruckt hast?« »Wirklich? Oh, hm. Die scheinen sehr zuverlässig zu
sein, diese Burschen vom Richterbund ...« »Ich hätte keine bessere Truppe finden
können. Allen voran Karl ... Ich frage mich, Becky, was ich dadurch verpasst habe,
dass ich nie studiert habe. Das Studentenleben muss lustig sein: fechten, singen und
trinken. Wenn das hier vorbei ist, werde ich mich in Philosophie einschreiben vorausgesetzt
ich kann
da
gegangen
war,
unternahm
mithalten.«
Nachdem
Becky
zurück
auf
ihr
Zimmer
Jim
noch
einen
Spaziergang
in
die Umgebung
des
    Schlosses. Die Nacht war klar und mondlos und der Schlossgarten lag still da, die Luft
war duftgeschwängert unter einem bestirnten Himmel. Während Jim, trunken von
der
Schönheit
der
Nacht,
den
Kiesweg
zwischen
dunklen
Taxushecken
entlangschlenderte, waren seine Gedanken bei Adelaide, deren Fenster er über der
Terrasse mit den Marmorurnen sehen konnte. Er blieb stehen und schaute eine
Weile hinüber, dann verließ er die Anlagen und lenkte seine Schritte in den Park, wo
sich Wiesen, hier und da von Bäumen unterbrochen, in weichen Wellen bis zum
fernen Wald dehnten.
    In einem weiten Bogen wanderte er ziellos durch das Gras und entfernte sich immer
weiter vom Schloss. Die Stille war so vollkommen, dass es ihm fast schien, der
einzige Mensch auf Erden zu sein.
    Da ertönte ein Laut, der ihn zu Eis erstarren ließ. Es war der Schrei eines Mannes.
Ohne jede Warnung drang er aus dem Dunkeln und erstarb wieder. Noch nie in
seinem
Leben
hatte sich
Jim
so
erschrocken.
Seine Muskeln
schienen
wie
geschmolzen; ihm war fast übel vor Schreck. Das war mehr als ein Schrei - das war
ein Heulen aus

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