Das Banner des Roten Adlers
sie auf Mahlstrom
gekommen. Das Ziel dieses Spiels bestand darin, möglichst als Letzter in den Strudel
hinabgerissen zu werden. Anders als bei anderen Würfelspielen brauchte man dazu
niedrige Augenzahlen. Adelaide mogelte, wo sie nur konnte. Obwohl sie die Würfel
absichtlich auf den Boden fallen ließ und dann vorgab, sie zeigten zusammen nur
zwei Augen; obwohl sie die Zahl der Felder, die sie vorrücken musste, falsch zählte;
und
obwohl
sie,
gerade
nachdem
Becky
gezogen
hatte,
etwas
schrecklich
Kompliziertes erzählte und dann behauptete, sie habe als Letzte gezogen und nun
sei Becky an der Reihe, musste sie schließlich doch erkennen, dass ihr kleines
Blechschiff lange vor Beckys in dem Strudel versinken würde. Nun behauptete sie,
Becky und nicht sie habe gemogelt. Becky lachte sie nur aus.
Adelaide stand kurz davor, einen Anfall zu bekommen - Becky kannte die Anzeichen
-, da klopfte es an der Tür und der König trat ein.
Becky machte einen Knicks. Adelaide sprang auf und begrüßte ihn mit einem Kuss.
Sie mochte ihn wirklich sehr, das sah Becky; sie konnte sehr zärtlich sein. Sie hatte
zu ihrer eigenen Überraschung Becky schon ein-oder zweimal Schwester genannt
und
danach
diesen
Einblick
in
versucht.
Becky
wunderte
sich
ihr
Seelenleben
mit
Bockigkeit
zu
übertünchen
daher
nicht
mehr
über Adelaides
Zärtlichkeit
gegenüber Rudolf, obwohl sie spürte, dass dies eine Form der Liebe war, die man
eher einem Lieblingsbruder, aber nicht unbedingt einem Ehemann bezeugte.
Becky wollte schon gehen, doch König Rudolf hielt sie zurück. »Nein, Fräulein
Winter, bleiben Sie doch bei uns. Welches Spiel spielt ihr denn gerade?« »Wir sind
fast fertig«, sagte Adelaide. »Rudi, spiel doch Schach mit mir. Becky kann zuschauen
und eine neue Eröffnung lernen.«
»Nein, nein. Ich mag solche Spiele viel lieber. Darf ich mitspielen?«
Ihre Majestät die Königin konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen:
Sie konnte eine neue Partie beginnen, ohne dass ihr Schiffchen versunken wäre. Sie
schob die Spielfiguren vom Brett und der König setzte sich zu ihnen an den Tisch mit
dem roten Tuch. Draußen wurde es langsam dunkel. Die Lampen waren angezündet
worden und verbreiteten warmes Licht auf dem bunt bemalten Spielbrett mit den
elfenbeinernen Würfeln und den kleinen Metallschiffchen. Dazu kamen die Hände
der beiden Spieler: Rudolfs mit dem glitzernden Königsring und Adelaides zarte, rosa
schimmernde, die sie übereinander legte, um
die Würfel zu schütteln. Als sie
gefallen waren, zeigten sie zwei Einser.
»Aufgepasst!«, rief sie und klatschte vor Freude in die Hände. »Diesmal klappt es.«
Sie zog ihr Schiffchen zwei Felder weit und damit hatte die Partie begonnen.
In einem schmucken alten Haus am Stephanusplatz, von dem aus man einen Blick
auf die Stufen des Doms hatte, klingelte eine Frau an der Tür einer Wohnung im
vierten Stock. Der Mann, der hinter ihr stand, trug einen länglichen Lederkoffer und
eine grüne Filztasche, in der ein Stativ hätte stecken können. Ein Diener öffnete die
Tür. Der Herr des Hauses, ein gewisser Alois Egger, Zigarrenhändler und Junggeselle,
kannte die Dame nicht, die sich mit Señora Menendez vorstellte. Sie vertrete eines
der führenden Modejournale Madrids. Ihr Begleiter sei Fotograf. Ob Herr Egger sich
bewusst sei, welches Interesse der phänomenale Aufstieg der jungen und schönen
Königin in ganz Europa wecke? Wenn Señora Menendez als Erste Details und Fotos
des Krönungskleides bekäme ... Habe man von dieser Wohnung nicht einen Blick auf
die Domtreppe?
Den hatte man tatsächlich. Vom Balkon bot sich ein herrlicher Blick auf die Stadt.
Herr
Egger
war
kein
rückständiger
Provinzler,
er
war
ein
weltläufiger
Geschäftsmann; mehrmals im Jahr reiste er nach Amsterdam und einmal war er
sogar in Havanna gewesen. Ihm war es ein Vergnügen, mit einer so modernen und
obendrein so charmanten Frau wie Señora Menendez Geschäfte zu machen. Das
weckte in ihm die Erinnerung an einen Abend in Kuba: Der Mond schaute hinter
Palmen hervor, im Hintergrund die sanften Klänge einer Gitarre, eine rote Rose,
schwarzes Haar ...
Und der Preis, den sie ihm bot, war wirklich verlockend. Sie wurden sich rasch einig:
Er würde seine Wohnung am nächsten Morgen früh verlassen und sie ihr und dem
Fotografen
für
die Dauer der Krönungsfeier zum
ausschließlichen
Gebrauch
überlassen. Er würde ein hübsches Sümmchen dafür einstreichen, die Damen in
Madrid würden eine
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