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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Abteilung Husaren oder Ulanen angetrabt. Die recht
selbstgefälligen Reiter auf ihren schnaubenden Rössern blinzelten Becky unter ihren
schwarzen Fellmützen zu.
    Dann begann der eigentliche Einzug
unter
den
lauten
Hurrarufen
der
Menge,
flatternden Taubenschwärmen und tausenden von Fahnen, die von Fenstern, Türen
und Baikonen wehten. Obwohl die Entfernung zum Dom nicht groß war, dauerte es
doch eine gute halbe Stunde, denn sie fuhren erst den Cesky-Damm hinunter, durch
den
Gedächtnisbogen
hindurch
und
dann
in
den
Seerosenteich
und
am
Grottenpavillon,
den
1765
Stralitzky-Park,
vorbei
am
    König
Michael
für
seine
Schwanenbraut hatte errichten lassen. Den ganzen Weg entlang schwenkten Bürger
Fähnchen,
Touristen
lüfteten
die
Hüte
und
Polizisten
standen
stramm
und
salutierten. Hin und wieder sah Becky junge Männer durch die Menge huschen und
gewahrte etwas Grün-Gelbes an deren Schultern oder glaubte es zumindest.
    Jim schlich den Gang entlang bis zum Ende des Westflügels und schaute um die
Ecke. Sein Blick ging quer durch den Salon in den großen Bankettsaal. Ganz am
anderen Ende befand sich ein Anrichteraum mit einer Dampftheke zum Warmhalten
von Tellern und Schüsseln und dahinter ein kurzer Gang, der direkt in die Küche
führte. Aber konnte er, ohne gesehen zu werden, den Bankettsaal durchqueren?
Alle paar Minuten kamen Diener, arrangierten Blumengestecke, stellten Gläser auf,
rückten Stühle zurecht, gingen wieder ... Hinter ihm wurden Stimmen laut. Egal, er
musste es versuchen. Er duckte sich, spurtete durch den Salon
-hinein in den
Bankettsaal - leer, Gott sei Dank - Tellergeklapper: jemand im Anrichteraum - und
hechtete unter den Tisch.
    Die Tischdecke hing auf allen Seiten tief herab. Wenn er sich nicht durch Geräusche
verriet, konnte er von einem Ende zum anderen kriechen, denn der Fußboden war
mit Teppichen ausgelegt und quietschte und knarrte nicht. Doch der Weg war weit.
Der Tisch war gut und gerne zwanzig Meter lang, Jim hatte die Länge einmal
abgeschritten. Und er stand auf mehreren massiven Beinen, die strahlenförmig
ausliefen. Auch diese Hindernisse müsste er überwinden.
    Er machte sich auf den Weg. Er brauchte viel länger, als er gehofft hatte, denn auf
halber Strecke kam eine Schar Diener herein und legte mit geometrischer Präzision
Bestecke auf dem Tisch aus. Zu beiden Seiten sah er nur weiße Strümpfe und
schwarze Lederschuhe mit Schnallen, die sich langsam von Essplatz zu Essplatz bewegten. Er hörte ein leises Zischen aus dem Anrichteraum, das durch das Tischtuch
gedämpfte Klappern von Besteck, das Gemurmel von Stimmen - das sofort verstummte,
als
der
Tafelmeister (schwarze
Hosen)
erschien
und
die Gedecke
inspizierte, etwas auszusetzen fand, zum nächsten Platz weiterging. Dann wurde es
wieder
still
und
die
Füße
und
Beine
richteten
sich
zur
Tür,
durch
die
Jim
hereingekommen war. Beine in Uniform am Ende des Tisches: die engen braunen
Hosen mit schwarzem Streifen der Schlosswache.
»Haben Sie den Sekretär Seiner Majestät gesehen? Den Engländer namens Taylor?«
     
»Nein, Herr Hauptmann«, antwortete der Tafelmeister.
     
»Falls Sie ihn sehen, schlagen Sie sofort Alarm.« »Ja, Herr Hauptmann. Aber -«
     
»Die Angelegenheit ist von allerhöchster Wichtigkeit. Das Leben Seiner Majestät ist
möglicherweise in Gefahr.«
     
»Und der Engländer -«
     
»Genau. Halten Sie die Augen auf. Wachtmeister, Sie nehmen sich den Ballsaal vor.
Ich gehe zur Galerie hinauf.«
    Sie gingen wieder. Jim fluchte im Stillen. Alles war schlimmer, als er befürchtet
hatte; denn wenn es tatsächlich zu einem Anschlag käme - wovon er nun überzeugt
war -, würde man ihm die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Umso dringender
musste er sein Versteck verlassen ... Wie lange brauchten diese Lakaien denn noch?
    Fast eine halbe Stunde, wie sich herausstellte. Bis auch der letzte Löffel richtig
hingelegt, der letzte Stuhl genau parallel zur Tischkante gestellt, das letzte Trinkglas
vom letzten Stäubchen befreit war, war Jim vor Wut und Verzweiflung den Tränen
nah. Am Ende verließen aber alle Diener den Bankettsaal. Jim zählte bis hundert,
dann kroch er unter dem Tisch hervor und spurtete in den Anrichteraum. Ein Diener
mit einem Stapel Teller in der Hand starrte ihn mit offenem Mund an, doch im
nächsten Augenblick war Jim schon um die Ecke und stieß die Küchentür auf. Er
stürmte
vorbei
an
der
Schar
der
Hilfsköche und
Mägde,
die Fleischstücke
zuschnitten und Gemüse klein hackten,

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