Das Banner des Roten Adlers
herab, als Karl und zwei Studenten vorangingen, dann Adelaide und der
Graf folgten. Becky blieb fast stecken, doch Adelaide rief verzweifelt: »Becky, bleib
bei mir!«, bis diese nach vielem Drängen doch wieder hinter ihr war.
»Hier bin ich«, sagte sie, »ich folge dir.« Weitere Studenten stießen zu ihnen und
gaben Geleit, während sich die Menge vor ihnen teilte und Platz machte. Adelaide in
ihren
Krönungsschuhen,
die
nun
zerrissen
und
schmutzig
waren,
für
solche
Strapazen nicht gemacht, suchte vorsichtig Stufe um Stufe nach einem sicheren
Tritt.
Ein
leises,
anhaltendes
Stöhnen
entrang
sich
ihrer
Brust.
Die Zähne
zusammengebissen und mit Tränen in den Augen schritt sie weiter. Dann hielt
Adelaide plötzlich an. Becky konnte nicht erkennen, was sie wollte, bis der Graf sie
darauf aufmerksam machte: »Ihr Kleid - sie kann jeden Augenblick straucheln.« Er
trat beiseite, Becky kam rasch neben sie und raffte das reich verzierte Seidenkleid
ein wenig, so dass die Königin gefahrlos die nächste Stufe nehmen konnte.
Adelaide zitterte am ganzen Körper. Für einen Augenblick lehnte sie sich an Becky,
dann flüsterte sie: »Ich muss weiter« und schritt wieder aus. Immer weiter ging es
nach oben, Stufe um Stufe, und immer langsamer. Die Menge, die unten geblieben
war,
die Menschen,
die auf
dem
Gipfel
auf
sie warteten,
und
jene,
die auf
Felsvorsprüngen hockten oder sich am Wegesrand an Sträuchern festhielten, alle
waren jetzt still geworden.
Die anfeuernden Rufe waren erstorben. Wer nahe genug stand, sah die Qual in
ihrem kreidebleichen Gesicht und fühlte mit ihr die Anspannung, die so groß war,
dass sich Adelaide die Lippen blutig biss.
»Noch eine Biegung«, flüsterte Becky. »Es ist nicht mehr weit. Halte durch. Mach
eine Pause, wenn du nicht mehr kannst. Ruh dich aus, so lange du willst. Aber es ist
nicht mehr weit.«
Doch Adelaide war mit ihren Kräften am Ende. Sie konnte nicht sprechen, konnte
nicht mehr klar sehen; ihr Körper bebte, und Becky sah zu ihrem Entsetzen, dass die
Königin unter ihren Fingernägeln blutete. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, die
kunstvoll frisierten Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht. Becky trat zu ihr, um sie
wegzustreichen, und spürte das Beben sogar an den Schläfen.
Am Ende der Treppe gleich hinter der letzten Wegbiegung war ein Paradeplatz, mit
einem Fahnenmast in der Mitte und der Bergstation der Seilbahn auf der gegenüberliegenden Seite. Fast am Ziel, fast am Ziel ... Doch als die Gruppe die letzte
Biegung genommen und Adelaide mit wunden Füßen die letzten Stufen erklomm,
fiel ein Schatten auf sie.
Becky schaute zu der hünenhaften Gestalt empor, zu den düster blickenden Augen
Otto von Schwartzbergs. Und Adelaide verließen die Kräfte. Sie blieb stehen. »Ich
kann nicht mehr«, flüsterte sie. »Ich bin am Ende, Becky, ich möchte sterben ...«
Otto von Schwartzberg sah Adelaide mit undurchdringlicher Miene an. Ob er geplant
hatte, sie zu erschlagen oder sie auf seinen Armen bis zum Gipfel zu tragen, war
nicht zu ergründen. Seine schiere Gegenwart war so beeindruckend, dass niemand,
nicht einmal der Graf, wusste, was zu tun war. Und die Fahne sank tiefer und tiefer
...
Mitten in die Stille hinein sprang plötzlich vom Felsengipfel eine Gestalt und landete
genau vor Otto von Schwartzberg. Ein blonder, strubbeliger Kobold, blutend und mit
zerrissener Jacke, pflanzte sich vor dem Riesen auf. Er hielt etwas in der Hand. »Aus
dem Weg«, befahl er. »Sie stehen der Königin im Weg.«
Noch nie hatte jemand so zu Otto von Schwartzberg gesprochen, in keiner Sprache.
Er trat beiseite und Adelaide tat die letzten Schritte bis zum Paradeplatz. Wenig
später sah die ganze Stadt die Fahne aufsteigen und alles jubelte.
Die Adler-Garde - die Soldaten, die auf dem Felsen Tag und Nacht Wache hielten eilte herbei, als der Graf sie anbellte, und nahm der Königin die Adlerfahne just in
dem Augenblick ab, als sie ohnmächtig in Beckys Arme fiel.
Ringsum herrschte ein grenzenloser Jubel. Hüte flogen in die Luft, die Fahne wehte
stolz oben am Mast und vom Felsen und von den Dächern der Stadt hallten
Freudenrufe, Böller und die Fanfarenklänge der Adler-Garde wider. Keiner wusste,
wohin Otto von Schwartzberg gegangen war. Der Graf machte sich Sorgen um
Adelaide,
doch
Becky
hatte ein
Fläschchen
Riechsalz in
ihrer Handtasche.
Sie
entkorkte es und hielt es der Königin unter die Nase. Der Geruch war so stechend,
dass sie sich abwandte und den Kopf schüttelte.
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