Das Banner des Roten Adlers
-«
Doch der Graf war besorgt. Er schlug sich auf den Schenkel, klopfte mit einem
Daumen gegen das Kinn, erhob sich und schritt unruhig zwischen Schreibtisch und
Fenster auf und ab.
»Taylor, sie ist gut, sie ist standhaft - und doch mache ich mir Sorgen, ich habe Angst
um sie. Was wird nun aus uns werden? Wir sollten für den Empfang rasch eine Rede
für sie vorbereiten - oder sollen wir alles absagen? Vor wenigen Stunden ist ihr
Mann vor ihren Augen erschossen worden - wer könnte von einer Frau erwarten -«
»Von einer Königin können Sie es erwarten«, versetzte Jim. »Und eine Königin
haben die Raskawier in der Tat bekommen. Wenn Sie meinen Rat hören wollen,
schreiben Sie ihr nicht vor, was sie sagen soll. Lassen Sie sie selbst die richtigen
Worte finden. Sie haben doch gesehen, wie sie mit dem Volk umgehen kann.
Vertrauen Sie ihr.«
»Hm«, machte der Graf und rieb sich das Kinn. »Ich weiß nicht recht.«
»Wir sollten uns dringend mit Baron von Gödel befassen. Wussten Sie, dass mir
heute Morgen untersagt wurde, das Schloss zu verlassen? Der Hauptmann der
Schlosswache hatte Befehl, mich zu suchen und festzunehmen. Haben Sie Gödels
Gesicht gesehen, als er uns vorhin empfangen hat?«
»Aber -«, der Graf setzte sich vor Erstaunen wieder. »Aber Sie waren doch ...«
»Ich habe mich abgeseilt, versteht sich. Doch Graf, Gefahr ist im Verzug - vielleicht
sogar hier im Schloss.
Ich traue dem Mann nicht über den Weg. Könnten wir ihn nicht irgendwohin
abschieben?« Der Graf wehrte müde ab. »Das Amt des Oberhofmeisters ist erblich.
Wir können Gödel nicht in die Wüste schicken ... Immerhin könnten wir eine andere
Befehlskette aufbauen
...
Über
das
richtige Vorgehen
muss
ich
erst
noch
nachdenken.«
Jim hätte gern noch mehr gesagt, doch es klopfte an der Tür. Baron von Gödel trat
ein, blass, aber gefasst. »Ihre Majestät hat mich soeben zu ihrem Privatsekretär
ernannt«, donnerte der Graf. Das war zwar eine glatte Lüge, aber Gödel konnte im
Moment nichts darauf erwidern. »Solange Ihre Majestät nicht anders entscheidet,
gehen die Geschäfte bei Hof den gewohnten Gang. Mr Taylor ist mein persönlicher
Vertreter; ich wünsche, dass Sie seine Arbeit in jeder Hinsicht unterstützen. Er darf
in keiner Weise behindert werden, haben Sie mich verstanden? Wie steht es mit den
Vorkehrungen für den Empfang?«
Gödel schluckte schwer und meldete: »Alles ist bereit, Graf Thalgau. In Anbetracht
der tragischen Umstände habe ich angeordnet, dass die Kapelle der Adler-Garde
nicht während des Empfangs spielt. Ihre Majestät wird die Gäste im Großen Saal
empfangen. Ich denke, alle werden der Situation entsprechend nur ihre Aufwartung
machen und rasch wieder gehen.« »Kümmern Sie sich darum. Sobald der Empfang
vorüber ist,
werden
Mr
Taylor
und
ich
von
Ihrer
Majestät
in
ihrem
privaten
Arbeitszimmer erwartet. Halten Sie sich bereit für etwaige Anordnungen.« »Jawohl,
Exzellenz.«
Er schlug die Hacken zusammen, verbeugte sich und trat ab.
»Wird er gehorchen?«, fragte Jim. »Anfangs schon. Er sieht ja, woher der Wind weht
... Weiß Gott, wir leben in schwierigen Zeiten. Wir haben eine Woche, um die Macht
zu konsolidieren. Wenn wir bis dahin das Land nicht fest in unserer Hand haben,
zerfällt es. Aber jetzt wechseln Sie erst einmal Ihre Kleider, Taylor. Und beeilen Sie
sich.«
Zwanzig Minuten später erschien Jim im Galaanzug unter den übrigen Gästen im
Großen Saal. Vertreter aller angesehenen Kreise der raskawischen Gesellschaft
waren gekommen: fast der gesamte Adel, Bürgermeister, Senatoren, Ratsmitglieder,
führende Juristen, Bankiers, Geistliche, Professoren und sogar ein Dichter und ein
bildender
Künstler.
Aus
ihrem
Betragen
sprachen
Ernst,
Ergebenheit
und
Rücksichtnahme, und doch brannten alle darauf, die neue Königin zu sehen. Eine
Viertelstunde später ertönte eine Fanfare und Adelaide kam, anmutig in Schwarz
gekleidet, die Treppe herunter. Die Gräfin war an ihrer Seite und nur einen Schritt
hinter ihr folgte Becky. Jim suchte ihren Blick und zwinkerte ihr zu.
Ursprünglich sollten sie und der König am Fuß der Treppe stehen und jeden Gast in
der Reihenfolge des gesellschaftlichen Rangs begrüßen. Adelaide blieb aber ein paar
Stufen höher stehen, damit sie von allen gesehen werden konnte, und wandte sich
in schleppendem, aber klarem Deutsch an die Versammlung: »Willkommen im
Schloss. König Rudolf hatte den Wunsch, dass ich jeden Gast persönlich begrüße. Ich
werde ihm
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