Das Banner des Roten Adlers
Sie schlug die Augen auf, blinzelte,
schaute nach oben - und sah die rote Adlerfahne vor dem blauen Himmel wehen.
»Ich hab's geschafft«, flüsterte sie. Dann war das Knattern und Quietschen einer
Mechanik zu hören und der hübsche, aus Holz gezimmerte Wagen der Seilbahn kam
in Sicht. Die wackelige Gestalt des Erzbischofs, vom Blut des Königs besudelt, trat
heraus, und Jim reichte dem ängstlichen Mann, was er die ganze Zeit über in der
Hand gehalten hatte: die Krone Raskawiens.
Becky half Adelaide auf die Beine. Da stand sie nun blass und zitternd unter der
Fahne, die sie auf den Felsen von Eschtenburg getragen hatte, und wurde gekrönt
und alle auf dem Gipfel Versammelten knieten nieder und huldigten ihr.
Neun Anordnungen
Nach Adelaides Krönung herrschte für ein, zwei Stunden eine Mischung aus Trauer
und Aufregung in der ganzen Stadt. Tausende waren Zeugen der Ereignisse gewesen
und doch schien es immer noch unfassbar. Erst als sich Adelaide so weit erholt
hatte, dass sie in der Seilbahn die Talfahrt antreten konnte, wurden die neuen
Verhältnisse klarer. In der offenen Kutsche, die den neu gekrönten König Rudolf
zurück ins Schloss hätte bringen sollen, saß nun die Königin allein, blass und noch
zitternd vom Schock der jüngsten Ereignisse, die eiserne Krone auf dem schwarzen
Haar, das Gesicht von Schmerz gezeichnet. Sie hatte auch früher nie verhindern
können, dass sich ihre Gedanken
in ihrer Miene
widerspiegelten, und
das, so
erkannte Jim nun deutlich, verschaffte ihr Rückhalt bei den Menschen
- ihren
Untertanen. Sie konnte nichts verbergen, also glaubten sie ihr.
Doch die Situation war voller Gefahren. Jim beschlagnahmte ein anderes Pferd und
ritt, jeden Augenblick mit einem zweiten Anschlag rechnend, den ganzen Weg zum
Schloss neben der Kutsche her. Auf der anderen Seite gab der Graf das Geleit.
Während ringsum Jubel und aufmunternde Zurufe zu hören waren, saß die Königin
mit dem genau richtigen Gesichtsausdruck in der Kutsche. Breites Lächeln wäre
genauso
falsch
gewesen
wie
tiefe
Niedergeschlagenheit.
Sie sah
ernst,
stolz,
entschlossen, besorgt und furchtlos aus. Jim blickte zum Grafen hinüber und wusste,
dass sie beide das Gleiche dachten: Durch einen wunderbaren Zufall hatte Raskawien die richtige Herrscherin gefunden. Die kleine Adelaide vom Hangman's Wharf
war eine Königin vom Scheitel bis zur Sohle.
Unterdessen suchten Militär und Polizei das Gebiet um den Stephanusplatz nach
Spuren des Attentäters ab. Doch ein einzelner Schuss kommt zu überraschend, um
eingeordnet werden zu können, und die Zeugen konnten sich nicht einigen, von wo
er abgefeuert worden war. Allein die Zahl der Fenster ging in die hunderte; hinzu
kamen Balkone, Torbögen und die barocken Dächer mit den vielen Ziergiebeln,
Simsen
und
Balustraden
...
Ganz zu
schweigen
von
den
vielen
verwinkelten
Seitengassen, die selbst die Bürger des Viertels nur zum Teil kannten und die auf
keinem Stadtplan verzeichnet waren. Die Suche ging zwar weiter, doch an einen Erfolg glaubte niemand so recht.
Im Schloss ging es hektisch zu. Alles war für einen König vorbereitet gewesen. Für
den feierlichen Empfang trafen Gäste ein - zum Mittagessen bekannte Bürger der
Stadt,
für
das
Abendessen
ausländische Vertreter
-und
plötzlich
fehlte die
Hauptperson. Als die Kutsche samt Eskorte vor dem Säulenportal hielt, kam Jims
Feind, der Oberhofmeister Baron von Gödel, an die Tür und verbeugte sich beflissen.
Allerdings konnte er eine nervöse Blässe nicht verbergen. Der Graf neigte sich zu
Adelaide hinab und flüsterte ihr etwas zu, doch da Be-cky nicht in der Nähe war,
verstand sie nur halb, was er ihr sagte. Zu Gödel gewandt, sprach der Graf: »Ihre
Majestät möchte sich nun in Ihre Privatgemächer zurückziehen. Der Empfang wird
wie
geplant
stattfinden.
Ich
erwarte
Sie in
einer
Viertelstunde im
Grünen
Amtszimmer.«
Kaum war die Tür geschlossen, nahm der Graf seinen Hut mit dem Federbusch ab
und warf ihn zu Boden. »Schwartzberg!«, donnerte er mit einer Stimme, die das Glas
in den Fenstern erzittern und die Tinte im kristallenen Tintenfass hochschwappen
ließ. »Meinen Sie wirklich?«
»Wer sonst? Der reißende Wolf ... Doch er hat nicht mit unserem kleinen englischen
Adler gerechnet. Adler fängt man nicht mit Vogelleim!«
»Nein, Graf, ich glaube nicht, dass er es war. Aber lassen wir das dahingestellt sein.
Wenn er wirklich so schlau ist, hat er bestimmt keine Spuren hinterlassen. Ich habe
eine andere Idee
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