Das Banner des Roten Adlers
Jungen, die ihre Mützen schwenkten und schrien. Die
Straße über die Brücke war wie der Platz vor dem Dom mit Steinen gepflastert.
Becky beobachtete besorgt, wie Adelaide in ihren zierlichen Satinschuhen Balance
suchte.
Schritt für Schritt näherten sie sich dem Scheitel der Brücke. So dicht war die Menge
und schob und drängte sogar auf der Mauerkrone des Steingeländers, dass Becky
fürchtete, wenn auch nur einer fiele, würde unweigerlich ein halbes Dutzend mit ins
Wasser gerissen. Adelaide weinte still, die Zähne zusammengebissen, das Gesicht
blass, die Arme zitternd.
»Über die Hälfte des Wegs haben wir geschafft«, sagte Becky. »Halte durch!«
»Aber jetzt geht's steil bergauf«, stieß Adelaide unter Tränen hervor, jedoch ohne
anzuhalten. Am anderen Ende der Brücke führte die Straße durch den großen
gotischen Bogen eines Torhauses, aus dessen Fenstern Menschen schauten. Die
Straße wurde schmaler, was das Durchkommen noch schwieriger machte. Karl rief:
»Macht Platz! Platz für die Königin !«
Der Graf hatte seine Pistole wieder eingesteckt und beobachtete Adelaide aus
nächster Nähe, stets bereit, sie aufzufangen, falls sie straucheln sollte. In seinem
alten
Gesicht
spiegelten
sich
erreichten,
das
sie passieren
Sorge und
Stolz zugleich.
Als
sie das
Torhaus
mussten,
zitterte Adelaide so
sehr,
dass
Becky
fürchtete, sie könnte die Fahne sinken lassen. Was dann?, ging es ihr durch den
Kopf, was dann ? Doch Adelaide ließ die Fahne nicht sinken. Sie hielt nur an, stellte
die Stange auf ihre Hüfte und sah zum Grafen auf, ehe sie sich kurz auf seinen Arm
stützte. Und dann ging sie weiter, durch das Torhaus; die Menschen schoben und
drängten sich, kletterten auf jeden Fenstersims und jeden Mauervorsprung und
gaben den Weg frei zur Treppe, die sich zum Gipfel des Felsens emporwand.
»Hau ruck, Rittmeister, hau ruck!« Wie machte der alte Fährmann das bloß ? Jim
hatte sich schon früher gewundert, wie tatterige alte Männer, die Mühe hatten,
ihren Haferschleim zu löffeln, in kürzerer Zeit einen Graben ausheben oder einen
Baum
fällen
konnten
als
so
mancher
kräftige
junge
Mann
mit
schwellenden
Muskeln. Hier bestätigte es sich wieder einmal. Er und der Rittmeister schwitzten
und zitterten in dem wild gierenden Kahn - und dabei hatten sie das andere Ufer
immer noch nicht erreicht. »Ja - hau ruck! Hau ruck!«
Zum Teufel, dachte Jim, warum mache ich das eigentlich? Er tat es nicht nur für
Adelaide. Er tat es auch für Rudolf, für den Grafen, für Becky und für Karl von
Gaisberg; und für das ganze kleine, kümmerliche Königreich, das so viel auf seine
Geschichte, seine Ehre und seinen Stolz hielt. Er fühlte sich ebenso als Raska-wier
wie der Rittmeister und zog aus Leibeskräften. Bald hatten sie die Hauptströmung
hinter sich und näherten sich schneller der Anlegestelle am anderen Ufer.
Endlich kletterten sie an Land.
»Und wohin jetzt? Zur Seilbahn?«, fragte der Rittmeister.
»Einen anderen Weg gibt es nicht. Rasch!« Sie schoben den Gottesmann auf den
Weg am Fuß des Felsens, der zur kleinen Talstation führte. Dort pochten sie an die
Tür des Stationsvorstehers, bis endlich jemand öffnen kam.
»Nein - Eintritt verboten - die Seilbahn fährt heute nicht -«
Doch da sah der Mann den Erzbischof mit der Krone in der Hand und endlich begriff
er. Sogleich betätigte er Hebel und drehte Wasserhähne auf, denn die Seilbahn
wurde durch Gewichte betrieben. Ein Wasserreservoir auf dem Gipfel (das von
derselben Quelle gespeist wurde, die vor hunderten von Jahren Walter von Eschten
und seine Mannen vor dem Verdursten bewahrt hatte und die jetzt erneut eine
Rolle in der Geschichte Raska-wiens spielte) füllte einen Behälter in dem leeren Wagen der Bergstation, der nun, da er schwerer war als der Wagen in der Talstation,
abwärts fuhr und dabei den unteren nach oben zog. Der Mechanismus war klar,
einfach und geräuschlos, aber unglaublich langsam. Während der Erzbischof im
Wagen saß und wartete, versuchten der Rittmeister und Jim den steilen Aufstieg
neben den Gleisen.
Adelaide schaute den Pfad hinauf, schloss die Augen und biss sich auf die Lippen,
ehe sie wieder zu Boden sah, um ihre Füße sicher aufzusetzen. Der Pfad war schmal
- mehr als zwei Menschen konnten nicht nebeneinander gehen. Auf der linken Seite
verlief
ein
Geländer,
auf
der
rechten
standen
anfangs
die Außenmauern
von
Häusern, später trat nur noch der nackte Felsen hervor. Aus allen Fenstern schauten
Gesichter
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