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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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verirren Plötzlich lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter: Aus der Finsternis vor ihm drang
erneut jener schreckliche Schrei,
    Das musste der Schrei eines eingesperrten Gespenstes sein, einer gemarterten
Seele, die aus tiefster Qual und Verzweiflung aufschrie. Die Stimme war verzerrt
durch den Widerhall an den Felswänden und
überlagert vom Geplätscher des
Wassers, daher konnte er schwer schätzen, wie weit sie entfernt war. Auf jeden Fall
hatte sie ihm einen furchtbaren Schrecken versetzt. Ihm fiel die Geschichte vom
Minotaurus ein, der in der Finsternis des Labyrinths auf das nächste Opfer wartet,
das sich hineinwagt ...
    Wie lange er so mit klopfendem Herzen und einer Gänsehaut am ganzen Leib
gestanden und gewartet hatte, wusste er nicht. Schließlich besann er sich wieder,
und das keine Minute zu früh, denn an der Felswand vor ihm tauchte ein Lichtschein
auf. Der Kahn kam zurück.
    Er schaute sich rasch nach einem Versteck um. Nichts als Schatten und Dunkel
ringsum, aber da war ein tieferer Schatten, das musste eine Nische im Fels sein. Sie
war nicht tief, deshalb hatte er sie beim Vorübergehen gar nicht bemerkt, aber
wenn er sich hineindrückte ... Er hörte das Klatschen der Ruder. Für weiteres Suchen
blieb keine Zeit. Er schlug den Kragen hoch, zog seine Mütze herunter, um die
Gesichtsblässe zu verbergen, und legte die Hand auf die Pistole in seiner Tasche. Das
Klatschen kam näher und mit ihm der Lichtschein. Der Schein spielte auf dem
Wasser, die wabernde Flamme in der Laterne war hell genug, um den ganzen Tunnel
zu erleuchten. Bestimmt würden sie ihn entdecken.
    Er hielt den Atem an und schaute, die Augen halb geschlossen, am Mützenrand
vorbei auf den herangleitenden Kahn. Keine der beiden Frauen bemerkte ihn, denn
jede schien in Gedanken versunken. Die alte Frau machte ein kummervolles Gesicht;
das der Schauspielerin war von einer Kapuze verdeckt, aber sie seufzte so schwer,
dass ihr ganzer Körper bebte. Und dann waren sie auch schon vorbei. Dunkelheit erfüllte erneut den Tunnel; das Klatschen der Ruder wurde leiser.
    Und was machst du jetzt, du Schlaumeier?, schalt Jim sich selbst. Aber er wusste
schon die Antwort. Er holte tief Luft, atmete dann langsam aus und tastete nach
seinen Streichhölzern. Jetzt konnte er ohne Gefahr ein Licht anzünden, denn sie
würden bestimmt nicht zurückkommen. Er riss ein Streichholz an, ging ein paar
Schritte vorwärts und schirmte dabei die Flamme mit den Händen ab, bis sie
ausging. Das wiederholte er ein Dutzend Mal. Einmal hörte er ein Klatschen im
Wasser hinter sich und hätte vor Schreck das Streichholz fast fallen lassen. Doch als
er sich umdrehte, sah er nur den Kopf einer davon schwimmenden Ratte. Ein
andermal jagte ihm ein leises, ängstliches Stöhnen, das von überall zu kommen
schien, einen Schauer über den Rücken.
    Doch er erkannte daran, dass er dem Geheimnis näher kam und dass es sich um eine
menschliche Stimme und nicht um ein Gespenst oder einen Dämon handelte. Mehr
noch, mit jedem Schritt vorwärts wuchs seine Ahnung fast zur Gewissheit, wessen
Stimme er da hörte.
    Jetzt bog er um eine Ecke im Tunnel. Das Wasser strömte immer noch langsam zu
seiner Linken, während der Pfad hier breiter wurde. In die Felswand zu seiner
Rechten
war
ein Eisengitter eingelassen. Die Stäbe
hatten
die
Dicke von Jims
Daumen und waren sauber in den Stein eingefügt. In der Mitte des Gitters war eine
Tür mit einem massiven Schloss.
    Hinter dem Gitter befand sich eine kaum zweieinhalb auf zweieinhalb Meter große
Zelle. Auf einer Matratze in der Ecke lag mit ängstlich aufgerissenen Augen eine
zerlumpte Gestalt, die wie ein ausgemergelter Doppelgänger des Prinzen Rudolf
aussah; als sie sich aufrichtete und, vom Schein des Streichholzes angelockt, näher
an das Gitter kam, wusste Jim, dass er richtig geraten hatte. Unter Bartstoppeln und
Schmutz waren doch so deutlich wie auf dem Porträt in der Gemäldegalerie das
hängende Lid und das gekerbte Kinn von Rudolfs ältestem Bruder Leopold zu
erkennen - nur war er diesmal lebendig.
»Eure Hoheit«, flüsterte Jim und hielt dabei ein Streichholz hoch.
     
Der Mann reagierte nicht. Seine fieberglänzenden Augen verrieten kein Verständnis.
Es war, als würde man ein Tier anschauen.
    »Prinz Leopold? Sie sind es doch. Hören Sie, mein Name ist Taylor. Ich werde Sie hier
herausholen. Schauen wir uns mal das Schloss näher an -« Doch da ging die Flamme
aus und der Prinz schleppte sich winselnd zurück in seine

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