Das Banner des Roten Adlers
geheimnistuerisch
gesprochen. Sie konnte Adelaide nicht damit behelligen. Ihre Majestät hatte genug
anderes im Kopf. Sie würde sich Jim anvertrauen, wenn sie wüsste, wo er steckte.
Becky hinterließ eine Nachricht in seinem Zimmer und hoffte, dass er sie finden
würde.
Am selben Abend legte Becky im Salon ein neues Spiel aus. Es hieß »Das große
Eisenbahnrennen«
und
bestand
aus
einem
Brett
mit
einer
Karte von
Europa.
Adelaide warf einen Blick darauf und schnaubte verächtlich, denn das Königreich
Raskawien war so klein, dass es auf der Abbildung gar nicht berücksichtigt worden
war. »Diese Karte da«, sagte sie und schnippte mit dem Finger nach den kleinen
Blechzügen, die von London nach Konstantinopel oder von Brindisi nach Stockholm
um die Wette fahren sollten, »mit den Blechzügen und Blechschiffen, die in den
Strudel hinabgezogen werden - weißt du, was ich bin, Becky? Ich bin eine Blechprinzessin. Wie beim Schach: Ich überquere das Spielbrett bis zur letzten Reihe und
werde in eine Königin umgewandelt. Aber eigentlich bin ich immer noch aus Blech ...
Hast du Lust auf eine Partie Schach? Nein? Ich eigentlich auch nicht. Gehen wir auf
die Terrasse und schnappen ein bisschen frische Luft. Es ist so stickig hier drin ...«
Becky öffnete die Terrassentür. Gemeinsam gingen sie hinaus, lehnten sich an die
steinerne Balustrade und schauten auf den Park. Die Luft war lind. Die Umrisse des
Waldes waren kaum mehr zu erkennen, einzelne Bäume verschwammen im Dunst
und der Himmel darüber war dunkler denn je, ein stählernes Schwarz mit einem
Stich ins Preußischblau. Der Rasen der Parklandschaft, die sich bis zum fernen
Waldesrand hinzog, kräuselte sich hier und da unter einem Windstoß und glättete
sich sogleich wieder. Plötzlich rissen die Wolken auf, ein letzter Sonnenstrahl brach
durch und ließ das Grün der Bäume so kräftig erstrahlen, dass es Becky fast zu hören
glaubte. Die Abendbrise strich wie ein Geist über das Gras und hauchte auch die
beiden Frauen kühl an.
»Becky«, sagte Adelaide und betrachtete die dunkle Baumlinie im satt leuchtenden
Grün des Rasens. »Ja?«
»Das hier ist jetzt meine Heimat, oder?« »Ich denke schon.«
»Ich hätte nie gedacht, jemals so etwas wie ein Zuhause zu haben. Ich dachte, auf
der Straße oder im Arbeitshaus zu enden. Oder auch im Gefängnis. Ich dachte, mit
mir
müsse es
ein
solches
Ende nehmen
...
Oder Krankheit.
Eine von
diesen
Krankheiten, die, na, du weißt schon ... oder Schwindsucht. Ich dachte, ich würde so
dahinsiechen oder verrückt werden und in einer Irrenanstalt eingesperrt bleiben.«
»Aber so ist es nicht gekommen.«
Adelaide schwieg eine Weile. Dann seufzte sie so tief, dass sie sich fast schüttelte.
Sie starrte zum fernen Wald, während der Abendwind mit ihren Locken spielte.
»Der arme Rudi«, flüsterte sie. »Ich habe ihn nie ... geliebt, Becky ... Ich war gerührt
und hatte ihn wirklich gern, aber ... Wenn man das gemacht hat, was ich mit
Männern gegen Geld gemacht habe, dann kann man nicht mehr lieben ... Ich weiß
nicht. Wenn ich es mir so überlege, gibt es vielleicht drei Männer, die ich geliebt
habe. Der eine war ein alter Junggeselle, den alle Trembler nannten. Er hat sich um
mich gekümmert, als ich Jim und Miss Lockhart kennen lernte. Er war wie ein Vater
zu mir, so gütig und liebevoll. Dann der alte König. Komisch, nicht? Ich habe ihn nur
einen Monat gekannt, und er hatte allen Grund, mich zu hassen, aber ich habe ihn
so
lieb
gewonnen
...«
Ihr
versagte die Stimme.
Das
letzte Sonnenlicht
war
vergangen, der Himmel violett und schwarz wie ein Bluterguss. Der Wind hatte
aufgefrischt und Becky zog ihr Tuch enger um die Schultern. »Ich glaube, er hat dich
auch geliebt«, sagte sie. »Becky, mache ich es als Königin wohl einigermaßen gut?«
»Was für eine Frage! Ich glaube, kein Mensch auf der Welt könnte es besser machen
als du.« »Doch, Miss Lockhart könnte es, Mrs Goldberg meine ich. Ob sie uns
besuchen kommt, wenn die diplomatischen Gespräche vorüber sind?« »Da bin ich
mir sicher. Wir schreiben ihr einfach.« »Ich glaube ...«, sagte Adelaide leise, die
Hände auf der Balustrade und das Gesicht abgewandt, »ich hätte es gern, wenn sie
stolz auf mich wäre ... Wenn sie mir ein gutes Zeugnis ausstellen würde, wäre es mir
egal, was die anderen denken.«
»Und wer ist der dritte?«, fragte Becky nach einer Weile.
»Der dritte Mann?«
»Nach Trembler und dem König.«
»Ach so, das. Ich weiß
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