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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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nicht. Wahrscheinlich habe ich mich geirrt und es sind nur
zwei. Ich gehe wieder hinein, es wird kühl. Ich lasse mir eine heiße Schokolade
bringen und geh dann ins Bett. Bleib nicht zu lange hier draußen, sonst erkältest du
dich. Du musst morgen viel reden.«
    Nachdem Adelaide sich zurückgezogen hatte, saß Becky noch eine Weile über einem
Buch, konnte sich aber nicht konzentrieren. Sie klopfte an Jims Tür, doch der war nie
da; sie versuchte, Schach zu spielen, die rechte Hand gegen die linke, vergaß aber,
wer mit Ziehen an der Reihe war; sie probierte das Eisenbahnrennen aus und hörte
auf, als ihr kleiner Blechzug Wien erreichte. Sie versuchte es mit einer anderen
Lektüre,
aber die Bücher waren
entweder anstrengend
oder nur
seichte Unterhaltung, für Ersteres war sie zu müde, für Letzteres zu aufgewühlt.
    Schließlich legte sie sich das Tuch um die Schultern und betrat noch einmal die
Terrasse. Der Abend war jetzt stürmischer. Sogar von hier aus hörte sie das Rauschen der sturmgepeitschten Bäume und eine seltsame Bangigkeit beschlich sie. Es
schien ihr, als ob Geister wie trockenes Laub durch die Luft gewirbelt würden, dazu
verdammt, niemals Ruhe zu finden, niemals die empfangene Güte an die Erde
zurückzugeben, niemals wirklich tot zu sein, sondern an einem Ort zwischen Leben
und Verlöschen endlos hin und her geworfen zu werden ...
Sie stand, die Hände an der Balustrade, am Ende der Terrasse und schloss die Augen
vor dem Dunkel, um den Wind besser zu spüren.
    Aus einer Vorahnung heraus öffnete sie die Augen plötzlich wieder und keine
Sekunde später legte sich ein Arm um ihren Hals, eine Hand verschloss ihr den Mund
und jemand zog sie heftig zu Boden.

Elf In der Grotte
    Und eine Stimme flüsterte ihr ins Ohr: »Becky - ich bin's, Jim - pst - kein Wort Gefahr -« Beckys Gefühle fuhren Achterbahn, aus Angst wurde Anspannung. Jim
nahm die Hand von ihrem Mund, ging in die Hocke und lugte durch die Balustrade.
Auch Becky richtete sich rasch auf und schaute in dieselbe Richtung wie Jim. Vor der
im Mondlicht bleichen Mauer hob sich die dunkle Gestalt einer Frau ab, die langsam
unterhalb der Terrasse entlangschlich. »Wer ist das?«, flüsterte sie.
    »Eine alte Dienerin mit Namen Busch. Sie ist die Witwe des Jägers, der bei Prinz
Leopolds Tod dabei war ...« Becky merkte plötzlich, dass Jim eine Pistole in der Hand
hielt. Das unruhige Mondlicht glänzte in seinen Augen. Die Frau hatte keine zwanzig
Schritte von ihnen entfernt im Schatten eines dunklen Gebüschs angehalten.
»Was geht da vor?«, flüsterte Becky. »Was macht sie da?«
    »Pst« war alles, was sie als Antwort erhielt. Jim beobachtete angestrengt. Nach
einer Minute änderte sich seine Miene, denn nun geschah weiter entfernt etwas.
Auch Becky lugte zwischen den dicken Balustern hindurch und sah eine andere
Gestalt um die Ecke des Gebäudes schleichen und auf die erste zugehen. »Noch eine
Frau«, flüsterte Becky. »Oder?« Sie spürte, wie sich in Jim eine Spannung aufbaute
wie bei einer Katze, die im nächsten Augenblick eine Maus anspringt. Er brauchte
nicht den Finger auf den Mund zu legen: Sie wusste, dass sie nun still sein musste.
Die andere Frau hatte nun Frau Busch erreicht. Ein Flüstern war zu hören, dann
traten beide aus dem Schatten, überquerten den Kiesweg und schlichen über die
Wiese in Richtung auf den entfernten Wald. »Ich folge ihnen«, entschied Jim. »Du
bleibst hier.« »Denkst du! Ich gehe mit dir!«
    »Kommt nicht in Frage«, widersprach er. »Die andere Frau ist gefährlich. Das ist die,
nach der ich die ganze Zeit gesucht habe - die Attentäterin. Ich könnte deiner
Mutter nicht mehr in die Augen sehen, wenn dir irgendetwas zustieße. Aber damit
nicht genug. Du musst morgen für Adelaide in Bestform sein, vergiss das nicht. Das
ist deine Aufgabe, dies hier ist meine.« Becky biss sich auf die Lippen. Er hatte Recht.
Dann gab sie einen Laut von sich, legte aber gleich die Hand auf den Mund. »Oh!
Hast du meinen Zettel bekommen? Wegen des Kartenraums? Ich habe ihn in
deinem Zimmer gelassen.«
    »Ich habe in den letzten Tagen nicht dort geschlafen.« Jim sah den beiden Gestalten
nach. »Schau, ich habe jetzt keine Zeit mehr, sonst verliere ich die beiden aus den
Augen. Berichte mir später davon.« Er lief bis zur Mitte der Terrasse, wo die Treppe
in den Garten herabführte, blieb kurz stehen, um sich der Richtung zu vergewissern,
in der die beiden Frauen verschwunden waren, und eilte ihnen in weiten

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