Das Banner des Roten Adlers
da?« Becky wollte gerade antworten, als es an der Tür klopfte und
Adelaides Kammermädchen eintrat, einen Knicks machte und verblüfft zu Becky
hinüberschaute. Es trug ein Frühstückstablett.
»Guten Morgen, Majestät«, sagte das Kammermädchen. »Guten Morgen, Fräulein
...« Adelaide gab einen unverständlichen Laut von sich, als das Mädchen erst die
Fensterläden öffnete und sich dann hinkauerte und die Glut schürte. In weniger als
einer Minute hatte es das Feuer wieder entfacht. Adelaides schwarzes Kätzchen
wachte in den Falten des Federbetts auf und zeigte gähnend sein rosa Mäulchen mit
den nadelspitzen Zähnen.
»Komm her, Milchbart«, lockte Adelaide und hob das tapsige kleine Wesen an ihr
Gesicht
und
küsste es.
»Der Himmel
ist
bedeckt,
Majestät«,
sagte das
Kammermädchen. »Ich glaube, dass
es heute schneit. Haben Majestät noch einen
Wunsch?«
»Nein. Wie spät ist es? Na, egal. Fräulein Winter sagt es mir. Halt, Sie können ein
Bad einlaufen lassen.« Und zu Becky gewandt: »Heute muss ich piekfein aussehen.
Du übrigens auch. Wer auf Sofas schläft, kriegt schnell einen steifen Nacken. Es geht
nicht an, dass du hinter mir stehst und wie ein Regenschirmgriff aussiehst. Wo treibt
sich eigentlich Jim herum?« Durch die geschlossene Badezimmertür hörte man das
Wasser in die Wanne laufen. Becky stellte das Frühstückstablett auf Adelaides Schoß
und setzte sich auf das Bett, um bequem mit ihr reden zu können. »Ich habe dir
noch nicht davon erzählt, weil ich dich nicht beunruhigen wollte. Aber in der Nacht
vor dem ersten Verhandlungstag war ich mit Jim auf der Terrasse, und dort haben
wir beobachtet, wie sich eine Frau mit einer alten Dienerin besprach ...« Adelaide
hatte das Kätzchen auf das Tablett gesetzt und ihm den Deckel der Butterdose
geöffnet. »Ich höre«, sagte sie. »Ihr habt eine Frau und eine Dienerin beobachtet.
Wer war es?«
»Wie sich
Leopold.«
später herausstellte,
die Ehefrau
von
Prinz Rudolfs
älterem
Bruder
»König
Rudolf.
Er
war
König.«
Adelaide,
die auf
Rang
und
Etikette
mittlerweile viel Wert legte (nur bei Milchbart machte sie eine Ausnahme), bestrich
ein Brötchen mit Butter, auf der die Abdrücke von Katzenpfoten zu sehen waren.
»Und dann hast du Ehefrau gesagt. Du meintest wohl Witwe.«
»Nein. Ehefrau. Jim hat herausgefunden, dass Leopold noch am Leben ist.«
Adelaide,
plötzlich
blass
geworden,
stippte
ein
silbernes
Löffelchen
in
die
Aprikosenkonfitüre. Milchbart leckte an der Sahne. Adelaides Hand wurde immer
langsamer, je länger Becky von Jims Entdeckungen erzählte. »Und wo ist Jim jetzt?«,
erkundigte sie sich, nachdem Becky mit ihrer Erzählung fertig war. »Er und die
Studenten vom Richterbund wollten Leopold aus seinem Gefängnis in der Höhle
befreien und dann -«
Beide hielten inne, Becky mitten im Satz, Adelaide mit dem Brötchen auf dem Weg
zum Mund. Das Kätzchen hatte erst gehustet, dann einen halb erstickten Schrei von
sich gegeben und war tapsig auf die Nase gefallen. Wie gelähmt schauten sie zu, wie
das Tierchen keuchte und in Zuckungen verfiel, ehe es sich mit einem leisen Miau
auf den Rücken warf, noch einmal zuckte und starb.
Hinter der Badezimmertür hatte das Plätschern des Wassers aufgehört. Die Klinke
wurde gedrückt und das Kammermädchen erschien, schaute herüber und meldete:
»Das Bad ist fertig, Majestät. Soll ich das Seidenkleid herauslegen oder ...«
Doch ehe es ausreden konnte, flog die Tür auf und Gräfin Thalgau stand vor ihnen.
Das Kammermädchen drehte erstaunt den Kopf. Die Gräfin, die ungewöhnlich blass
aussah und deren Augen weit aufgerissen waren, sah es und winkte es unwirsch
nach
draußen. Das Mädchen
blickte
rasch Adelaide an
und floh. Im
nächsten
Moment war die Gräfin schon an Adelaides Bett. Weder Becky noch Adelaide hatten
sich auch nur einen Zentimeter bewegt. Die Gräfin war außer Atem; sie war noch im
Morgenrock und mit unfrisiertem Haar gekommen.
»Oh - Gott sei Dank -«, sagte sie und nahm Adelaide das Brötchen aus der Hand.
Dann sah sie das Kätzchen. Sie verdrehte die Augen und taumelte. Becky sprang auf
und half ihr, sich zu setzen.
»Was - geht - hier - eigentlich - vor?«, fragte Adelaide in drohendem Tonfall.
Becky hatte die Gräfin nie zuvor in einem solchen Zustand gesehen. Ihr eisiger Blick,
mit dem sie so oft geringschätzig auf andere blickte, war geschmolzen; sie weinte
ungeniert
und
konnte
nicht
stillsitzen.
Sie
stand
wieder
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