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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Eskorte wartete. Gödel stand daneben. »Geben
Sie mir das«, sagte er und griff nach der Reisetasche. Entrüstet sah sie zu, wie er in
ihren Sachen wühlte, dann erhielt sie die Tasche zurück. Sie riss sie ihm aus den
Händen und sah ihn zornfunkelnd an.
    Ein Soldat öffnete den Schlag. Kaum war sie eingestiegen, fuhr die Kutsche los, so
dass sie ins Schwanken geriet und sich in die Polster fallen ließ. Licht drang nur
durch die Spalten der Vorhänge und so fragte sie ins Dunkel hinein: »Wer ist da? Ich
sehe nichts -« »Nur ich«, sagte Adelaide. »Hör auf herumzuturnen, mir wird sonst
schwindelig.«
Becky setzte sich aufrecht hin und fühlte an ihrem Rockbund. Erleichtert zog sie die
Pistole heraus und legte sie in die Reisetasche.
    »Auf die Weise werde ich nicht durchlöchert, falls das Ding von allein losgehen
sollte«, erklärte sie. »Sechs Kugeln, mehr haben wir nicht. Die dürfen wir nicht
vergeuden.«
    Sie setzte sich neben Adelaide, die, wie sie im Dämmerlicht der Kutsche sah, ein
grimmiges Gesicht machte. Die Kutsche schwankte, als sie durch die Schlosspforte
bogen, dann fuhren sie, rasch an Fahrt gewinnend, der Burg entgegen.
    Wenig später trafen Kuriere in den Botschaften von Deutschland und ÖsterreichUngarn ein. Außerordentliches Bedauern - Ihre Majestät ist überraschend krank
geworden - die feierliche Unterzeichnung des Vertrags kann nicht wie geplant
stattfinden - Verschiebung um mindestens drei Tage auf Anordnung des Arztes - die
letzte Verhandlungsrunde muss ausgesetzt werden bis zur Genesung Ihrer Majestät,
für die wir nur das Beste wünschen, und so weiter ...
    Eine inhaltlich gleiche, nur knapper formulierte Meldung ging an die Büros der
Pressevertreter.
Über
zwanzig
Korrespondenten
waren
dort
versammelt,
zwei
Drittel kamen aus dem Ausland, unter ihnen auch ein Gentleman von der Times und
drei Reporter von Londoner Massenblättern, die begierig waren auf jede Neuigkeit
über die »Cockney Queen«, wie sie sie nannten.
    Der Korrespondent
des Wiener
Beobachters las
die
Meldung,
die
ihm
der
Hofbeamte gegeben
hatte, laut vor. Daraufhin
bestürmten seine Kollegen
den
Beamten, doch der hob nur hilflos die Hände und erklärte: »Meine Herren, es tut
mir Leid, aber ich kann Ihnen nur das sagen, was ich weiß. Ihre Majestät ist heute
früh plötzlich erkrankt - der Königliche Leibarzt war sofort zur Stelle - ein erstes
ärztliches
Bulletin
wird
heute Mittag
veröffentlicht
-
die Verhandlungen
sind
einstweilen unterbrochen - Neues erst wieder heute Mittag - Entschuldigen Sie
mich, meine Herren, bis heute Mittag!«
    Er
ließ
die
Reporter und
ausländischen
Korrespondenten
stehen,
die
sofort
begannen, alles niederzuschreiben. Die Gewiefteren, die zwei Dinge auf einmal tun
konnten, formulierten die ersten Sätze im Kopf und eilten, zu Hut und Mantel
greifend, nach draußen, um eine Droschke zu ergattern.
    Die Kanzleibediensteten und Schreiber, unter ihnen auch Herr Bangemann, nahmen
die Neuigkeit mit Sorge um Ihre Majestät auf. Da sie keine Arbeit hatten, vertrieben
sie
sich
die
Zeit
mit
Spekulationen
und
Kartenspielen
oder
fabrizierten
Gelegenheitsverse. Ein Kollege von Herrn Bangemann zeigte ihm, wie man aus einem viereckigen Blatt Papier einen chinesischen Mandarin faltet. Herr Bangemann
machte
sich
sofort
daran,
fünf
solcher
Figuren
in
abnehmender
Größe zu
verfertigen.
    Jim hätte nie gedacht, aber auch nicht im Entferntesten, wie unerträglich er es
finden würde, gefangen zu sein. Es war in jeder Hinsicht scheußlich. Man war hilflos
wie ein Säugling und ebenso im Dunkeln wie der arme Leopold in seinem Kerker. Jim
traten jedes Mal Tränen der Wut in die Augen, wenn er an die Szene vor der Falltür
in dem Wäldchen dachte. Er hatte gesehen, wie der Prinz sich verzweifelt an Anton
klammerte und wie ein Kind schluchzte, als die Soldaten ihn fortzerrten. Oder hatte
er sich das nach dem zweiten Schlag auf den Kopf nur zusammenphantasiert?
    Noch ein anderes Bild hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt: wie Carmen Ruiz
hilflos im Boot die Hände ausstreckte, während sie von der Strömung ins Dunkel
fortgerissen
wurde.
Er
wusste nicht,
ob
das
Wasser der
Höhle in
den
Fluss
zurückfloss oder jemals wieder ans Tageslicht kam, und allein der Gedanke daran
war entsetzlich.
    Jim rieb sich ärgerlich das Gesicht und versuchte, seine Gedanken lieber Adelaide
zuzuwenden, aber da hätte er vor Wut beinahe losgebrüllt. Es half alles nichts. Er
stand von seiner Pritsche auf, riss sie aus

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