Das Banner des Roten Adlers
grausam ... Adelaide ging mit gerunzelter Stirn vor dem kalten,
schmutzigen
Kamin
auf
und
ab.
Die
Burg
hatte
seit
der
Errichtung
des
Residenzschlosses vor über hundert Jahren keinen Burgvogt mehr gehabt und so
lange hatte dieses Zimmer vermutlich leer gestanden. Adelaide beachtete Beckys
Tränen nicht und nach einer Minute hatte sich diese wieder beruhigt. Sie wischte
sich die Tränen ab und schniefte einmal kräftig. »So«, sagte sie, »genug geflennt.
Das mache ich nicht wieder. Ob man uns wohl etwas zum Frühstück bringt? Soll ich
an der Klingelschnur ziehen?« Tatsächlich hing neben dem Kaminsims eine zerschlissene alte Kordel aus verblasstem Samt. Adelaide zog selbst heftig daran, worauf das
ganze Ding in einer Wolke von Gips und Staub herunterkam. Immerhin bimmelte es
ziemlich laut im Gang. »Nützliche Einrichtung«, bemerkte Adelaide mit Blick auf die
Kordel. »Wir können uns nacheinander aufhängen. Ich zuerst. Bei deinem Gewicht
würde die Schnur wahrscheinlich reißen.«
Die Tür ging auf und der Hauptmann trat ein. »Hauptmann, ist Ihnen bewusst, dass
heute Morgen jemand versucht hat, uns zu vergiften?« Der Mann zuckte zusammen
und schluckte einmal, dann schüttelte er den Kopf.
»Weshalb wir seit heute früh weder gegessen noch getrunken haben.«
»Ich, äh, ich werde dafür sorgen, dass man Ihnen etwas bringt.«
»Tun Sie das.«
Er machte Anstalten, sich zu verbeugen, besann sich aber und machte daraus ein
höfliches Kopfnicken. Dann schlug er die Hacken zusammen und ging. Wieder drehte
sich der Schlüssel im Schloss. »O weh«, stöhnte Adelaide und setzte sich, nachdem
sie den Staub weggewischt hatte, auf die Kante eines abgewetzten Lehnstuhls.
»Wenn man sogar uns verhaftet hat, nehme ich an, dass Jims Plan gescheitert ist.
Hoffentlich ist ihm nichts passiert.«
Becky bekam ein flaues Gefühl in der Magengrube. Erst jetzt merkte sie, wie sehr
ihre eigene Zuversicht mit dem Wissen stand und fiel, dass Jim frei war. »Dem
geschieht schon nichts«, sagte sie wenig überzeugend.
»Und der arme kleine Milchbart ... Ich frage mich, was uns als Nächstes erwartet.
Hoffentlich etwas,
das schnell wirkt. Eine Kugel wäre mir recht. Ich mag mir lieber
nicht vorstellen, einen Kopf kürzer gemacht zu werden ...«
»Schluss jetzt«, fuhr Becky sie an. »Schluss mit dem Unfug. Von wegen, eine Kugel
wäre dir recht. Das sollte dir ganz und gar nicht recht sein. Du darfst nicht aufgeben.
Sie haben kein Recht, so mit dir umzugehen. Wir müssen herausfinden, was sie im
Schilde führen, und dann überlegen, wie wir sie daran hindern können.«
Adelaides Augen bekamen ein gefährliches Funkeln. Sie war lange genug Königin,
um nicht mehr gewohnt zu sein, in einem solchen Ton angesprochen zu werden.
Aber sie nickte.
»Also gut. Jedenfalls kann die Hofclique nichts tun ohne einen Herrscher. Man
braucht jemanden, der Verträge unterzeichnet, Gesetze ratifiziert und ... die Fahne
trägt. Einen Adlerträger. Daher rührt doch alle Autorität, oder?«
Becky schaute sie an und nickte. »Meinst du, dass sie die Fahne herunterholen,
damit Leopold sie wieder auf den Felsen trägt - vorausgesetzt, sie können ihn dazu
bringen?«
»Genau das. Sie hatten gehofft, ich würde das Frühstück futtern und dann wie
Milchbart unter Zuckungen verenden. Dann hätten sie gesagt: >Oh, wie traurig,
schaut nur, die Königin hat das Zeitliche gesegnete Anschließend hätten sie mir ein
Staatsbegräbnis spendiert und alle hätten sich die Augen rot geweint. Da wären sie
fein raus gewesen, hätten ganz unschuldig dagestanden und sich in die Schar der
Trauernden eingereiht. Und dann hätten sie Leopold aus dem Ärmel geschüttelt und
ihn dazu gebracht, ganz genau das zu tun, was sie wollen ...«
»Aber wir wissen nicht, ob sie ihn in ihrer Macht haben. Wenn Jims Rettungsplan
geklappt hat -« Der Schlüssel drehte sich wieder im Schloss. Ein Soldat hielt die Tür
für einen zweiten auf, der ein Tablett mit einem Krug Kaffee, zwei Tassen und einem
Brötchenteller hereinbrachte. Er stellte es auf den Tisch, salutierte und wollte schon
wieder gehen, als Adelaide aufstand und ihn mit einem »Moment!« zurückhielt. Sie
nahm ein Brötchen und reichte es ihm. Der Soldat schaute Hilfe suchend zum
Wachoffizier in der Tür. »Essen Sie das!«, befahl Adelaide.
Der Offizier nickte und der Soldat tat einen Bissen, kaute und schluckte. Dann
lächelte er unsicher. Adelaide schenkte unterdessen Kaffee ein. »Jetzt trinken Sie
das!«
Der
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