Das Banner des Roten Adlers
»Wir brauchen noch vier für die Könige
und Damen. Können wir nicht die Wache über den Haufen schießen und uns welche
holen?«
»Wenn's ums Schießen geht, das mache ich. Aber nicht auf Wachen. Der arme
Teufel tut doch nur, was man ihm befiehlt. Aber er tut nicht, was ich ihm sage! Vielleicht schieße ich doch auf ihn. Wo sind denn die Läufer?«
»Läufer?«
»Du hast noch keine Läufer gemacht. Lass mich mal ran.«
Adelaide schob sich die Haarsträhnen hinter die Ohren, kniete sich hin und begann
ihrerseits mit dem Falten und Zwirbeln kleiner Figuren. Becky trat ans Fenster.
Mittlerweile war es fast vollständig dunkel geworden, aber unten im Hof erschien
ein Trupp Soldaten mit einer Laterne. Die Männer räumten auf der anderen Seite
des Hofes den Schnee weg, dann hoben sie ein kleines quadratisches Loch aus. Vier
weitere Soldaten brachten einen schweren Pfosten und richteten ihn an der Mauer
auf. Becky wurde sich schlagartig bewusst, was die Männer dort unter ihren Augen
trieben. Mit einem flauen Gefühl im Magen wandte sie sich rasch um und versuchte,
Adelaide abzulenken. »Wie kommst du voran?«
»Mit den Läufern bin ich fertig«, sagte Adelaide aufblickend. »Man erkennt sie an
den kleinen Dingern auf ihren Köpfen. Wo ist eigentlich die Pistole?« Sie stand auf
und nahm sie aus Beckys Reisetasche. »Mein Gott, ist die schwer. Wie viele Kugeln
sind drin? Sechs. Wenn doch Miss Lockhart hier wäre. Sie wüsste, was zu tun ist.«
»Ja, gewiss.« Becky schluckte schwer. Sie dachte an ihre Mutter und ein Bild tauchte
vor ihrem geistigen Auge auf: das kärglich eingerichtete, aber warme und vertraute
Wohnzimmer daheim; auf dem Tisch Mutters Farbtöpfe, im Schein der Lampe
aufgereiht; eine Scheibe Toast auf der Gabel; und im Hintergrund die Großmutter im
Lehnstuhl und Kater Tom-Tom, der am Herd schnurrte ... Alles stand ihr so lebhaft
vor Augen, dass ihr die Tränen kamen.
»Weinen hilft nicht, Becky«, bemerkte Adelaide und legte die Pistole wieder in die
Reisetasche. »Reiß dich zusammen. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal
geheult
habe. Das
heißt doch, ich erinnere mich. Das war
bei Mrs Catlett
in
Shepherd Market.«
»War das in dem ...« Becky wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte.
»Sie hat mich halb verhungert auf der Straße aufgelesen«, erzählte Adelaide. »Sie
nahm mich mit zu sich nach Hause, gab mir zu essen und saubere Sachen. Zuerst
habe ich nicht verstanden, warum. Aber das fand ich bald heraus. Und da flennte
ich, als ich merkte, wie tief ich gefallen war. Auch wenn ich auf seidener Bettwäsche
lag. Dabei hatte ich noch Glück, dass es die alte Bessie Catlett war und keine andere.
Sie war bei feinen Herrschaften in Stellung gewesen, sie kannte alle Herzöge und
Grafen, sie verstand zu schmeicheln und zu flirten ... Sie brachte uns alles bei. Und
hielt uns sauber. Jeden Monat kam ein Arzt und untersuchte uns.
Trotzdem holte sich eines der Mädchen - es war meine Freundin - eine Infektion.
Noch am selben Tag wurde sie hinausgeworfen. Bessie Catlett gab keinen Penny für
Medizin
aus.
Sie ließ
nicht
zu,
dass
ein
Mädchen
müßig
herumsaß,
während
dutzende, hunderte auf der Straße anschaffen gingen. Deshalb setzte sie die arme
Ethel vor die Tür. Ich habe mich oft gefragt, was wohl aus ihr geworden ist.
Hoffentlich hat sie es besser getroffen und einen guten Kerl gefunden, aber, weiß
Gott, davon gibt's nicht viele ...« »Und dort hast du Prinz Rudolf kennen gelernt?«
»Ja. Irgendein feiner Pinkel kam mit einer Herrenrunde in Bessie Catletts Haus und
Rudi wollte nicht mitmachen. So saßen wir nur beieinander und redeten. Er war ja
so nett ... Tja, und den Rest kennst du.« »Wie lange bist du in dem Haus geblieben?«
»Fast
zwei
Jahre lang.«
»Und
was
hast
du
vorher gemacht?«
»Das
habe ich
vergessen.« Sie schaute plötzlich weg. »Spielen wir jetzt eine Partie?«
Becky kniete sich ihr gegenüber auf den Boden. Das Schachbrett war nur schwach zu
erkennen, deshalb stellte sie die kleine Lampe daneben. »Ich gebe dir einen Turm
als Vorgabe«, sagte Adelaide. »Also los, du hast die Weißen, du beginnst.« Becky
hörte ein schwaches Hämmern aus dem Burghof ... Sie plauderte besinnungslos
drauflos, um das Geräusch zu übertönen, und zog ihren Königsbauern um zwei
Felder vorwärts. Adelaide strich sich die Haare hinter die Ohren und konzentrierte
sich, zufrieden seufzend, auf das Spiel.
Jim wachte auf. Draußen
Lichtschein
drang
durch
wurde mit
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