Das Banner des Roten Adlers
Kaffee war heiß, der Soldat musste erst ein paar Mal pusten. Er tat einen
Schluck, dann noch einen und leckte sich die Lippen.
Adelaide schaute Becky an. »Wie viel Zeit sollen wir ihm geben? Milchbart war
gleich hinüber.« »Aber er war so klein. Ich vermute, dass es bei einem Menschen
länger dauert.«
»Besonders bei so einem strammen Burschen wie dem hier. Noch mehr!«, befahl
sie. »Trinken Sie mehr!« Der Soldat bemühte sich, nicht überrascht auszusehen, und
trank
die Tasse aus,
während
Adelaide ihn
dabei
genauestens
beobachtete.
Nachdem er ausgetrunken hatte, nahm sie die Tasse, ohne den Blick von ihm zu
wenden, und nickte schließlich. »Gut, schick ihn weg«, sagte sie zu Becky. Der Mann
schlug die Hacken zusammen, salutierte und verließ, immer noch verdutzt blickend,
den Raum. Adelaide stürzte sich sofort auf die Brötchen und Becky goss den
restlichen Kaffee ein. »Wir müssen uns die andere Tasse teilen«, sagte sie. Adelaide
nickte mit vollem Mund. Ihre Augen glänzten; sie hatte eine Idee. Becky knabberte
an einem Brötchen, das trocken und fad war, und wartete, bis sie mit dem Kaffee an
die Reihe kam. »Na?«, fragte sie aufmunternd.
»Ich habe nachgedacht über das, was ich sagte, bevor die Soldaten hereinkamen.
Über die Fahne.« »Alle Autorität kommt schließlich von der Fahne. Ja. Und deshalb
brauchen sie sich nur die Fahne zu schnappen und sie Leopold in die Hand zu
drücken - und der muss sie wieder nach oben tragen. Dann ist die Sache erledigt.«
»Aber nur wenn die Fahne auch da ist«, wandte Adelaide ein. »Wie bitte?«
»Mal angenommen, Eschtenburg wacht morgen früh auf und die Fahne ist weg.«
Becky starrte Adelaide an, doch die schien es ernst zu meinen.
»Was schlägst du vor? Dass wir von hier, ohne gesehen zu werden, ausbrechen und
die Fahne unter den Augen der Wachen stehlen, meinst du das?« »Naja«, sagte
Adelaide. »Das war mein erster Gedanke. Für den Anfang doch ganz gut, oder?« Sie
nahm sich wortlos das letzte Brötchen. Becky ging zum Fenster hinüber, von dem
aus man einen Blick auf den kleinen Innenhof hatte. Unten drehte ein einsamer
Wachsoldat seine Runde. Auf der gegenüberliegenden Seite ragte das Gebäude
hoch in den grauen Himmel. Alle Fenster waren vergittert. Außer der Wache bewegte sich nichts, alles schien tot. Becky fühlte sich niedergeschlagen. Schon wollte sie
sich vom Fenster wieder abwenden, da sah sie etwas durch die Luft wirbeln, und
noch etwas und dann noch mehr: Die ersten dicken Schneeflocken fielen.
Sechzehn Wolle
Neun Studenten, darunter Karl, Anton und Gustav, hatten den Kampf in der Grotte
überlebt, wenngleich Karl und Gustav leicht verwundet worden waren. Es war ein
Kampf Mann gegen Mann gewesen; die Soldaten wollten nicht schießen aus Furcht,
den Prinzen zu verletzen. Sie mussten sich daher auf ihre Fäuste und Blankwaffen
verlassen und darin waren ihnen die Studenten ebenbürtig. Dennoch dauerte der
Kampf nicht lange, weil den Soldaten nur daran gelegen war, den Prinzen in ihre
Gewalt zu bringen. Kaum hatten sie ihn Antons Griff entwunden, schleppten sie ihn
in Richtung Schloss. Die ihnen nachsetzenden Studenten wehrten sie ab.
Kurz darauf kam das Gros der Soldaten aus dem Tunnel. Die Studenten, die in der
Minderzahl waren und obendrein keine Schusswaffen besaßen, sahen nun keine
andere Möglichkeit, als ihr Heil in der Flucht zu suchen. Erst da merkten sie, dass
auch Jim gefangen worden war. Das Gefühl, sich schuldig gemacht und versagt zu
haben, lag auf den Heimkehrern, als sie verwundet und mit zerrissenen Kleidern in
die Gassen und Hinterhöfe des Studentenviertels humpelten. Am folgenden Morgen
brodelte die Gerüchteküche in
der
Stadt.
Menschentrauben
standen
an
jeder
Straßenecke, die einen diskutierten über die politische Lage, die anderen vertieften
sich in die wenigen Zeitungen, und alle wurden immer wieder von der Polizei zum
Weitergehen
gedrängt.
Die Königin
geschlossene Kutsche
war
zur
Burg
sei
plötzlich
erkrankt,
so
hieß
es;
eine
hinaufgefahren,
berichteten
Augenzeugen;
Truppen waren, aus der Garnison Neustadt kommend, in Esch-tenburg eingerückt;
eine Kundgebung des Studentenführers Glatz und seiner Kameraden hatte laut
begonnen und war gleich wieder aufgelöst worden; die Börse war geschlossen; ein
offizielles Bulletin über den gesundheitlichen Zustand der Königin wurde stündlich
erwartet. Karl und die Studenten vom Richterbund, die erheblich mehr wussten als
die anderen Bürger, vergingen fast
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