Das Banner des Roten Adlers
vor Sorge über das, was sie nicht wussten. Das
Einzige, was sie tun konnten, war, sich bei denen, die am Fluss arbeiteten, zu
erkundigen, ob er noch Nebenflüsse hatte und, falls ja, wie diese zusammenhingen.
Allen, die im Tunnel gewesen waren, stand noch das Bild der Carmen Ruiz vor
Augen, wie sie hilflos von der Strömung fortgerissen wurde. Gewiss, sie war eine
Mörderin, aber kein Mensch verdiente, wie eine Ratte im Dunkeln zu sterben - und
so
stand
ihnen
im
Moment
deren
Schicksal
vor
Augen.
Aber
selbst
diese
Nachforschungen erbrachten nichts. Niedergeschlagen kehrten sie nach und nach
ins Cafe Florestan zurück, während die Bevölkerung um sie herum zwischen Furcht
und Spekulation schwankte.
Als das Tageslicht langsam schwächer wurde, war Jim mit seinen Vorbereitungen
fertig. Eine Wache war tagsüber zweimal in seine Zelle gekommen, einmal, um ihm
ein Tablett mit Essen zu bringen, ein zweites Mal, um es wieder fortzutragen. Jedes
Mal hatte der Mann Jim apathisch auf der Matratze liegen sehen. Jim hatte das
lauwarme, fettige Gulasch mit Kartoffelklößen gegessen, um bei Kräften zu bleiben.
Im Übrigen aber gab er sich den Anschein von Lethargie und Hoffnungslosigkeit,
denn das konnte nützlich sein. Außerdem hatte er die Wachroutine beobachtet und
das war noch nützlicher. Und die ganze Zeit über hatte er geduldig die Wolle seines
Seemannspullovers
aufgewickelt.
Das
war
engmaschig
gestrickt
und
im
Dämmerlicht
festes
Zeug:
dünn,
gewachst
und
schwer
zu
erkennen.
Als
Jim
mit
Aufwickeln fertig war, zitterte er zwar vor Kälte, verfügte aber über acht Kugeln
festen Wollgarns. Was konnte er damit anfangen?
Leise pfeifend
suchte
er
sich
den
längsten
und
stabilsten
Holzspan
aus
den
Trümmern seiner Pritsche heraus. Der Span lief an einem Ende spitz zu. Das andere
Ende umwickelte er mit so viel Garn, dass daraus ein bequemer Griff entstand:
Fertig war der Dolch.
Als Nächstes nahm er sich die Mauer der Zelle vor, in der er ein paar lose Steine
entdeckt hatte. Mit Hilfe eines anderen länglichen Holzstücks brach er einen von der
Größe seines
Kopfes
aus
der Mauer und
tastete dahinter nach
dem,
was
er
eigentlich suchte: kleinere lockere Füllsteine. Er holte eine Hand voll heraus, bis er
einen rundlichen Stein von der Größe eines Gänseeis fand. Dann stieß er die übrigen
Steine mit dem Fuß unter die Matratze und setzte den großen Mauerstein wieder an
seinen Platz.
Nun knotete er die widerspenstige Wolle so lange, bis ein kleines Nest entstand, in
das der rundliche Stein passte. Daran befestigte er einen Griff, den er aus mehreren
Garnsträngen geflochten hatte. Den Griff versah er mit einer Schlaufe für sein
Handgelenk, an dem nun ein Gewicht hing, mit dem man ein Pferd hätte narkotisieren können, wenn es nur an der richtigen Stelle traf. Diesen Totschläger probierte
er immer wieder an der Matratze aus, bis sich die Muskeln seiner Hand mit Gewicht
und
Bewegung
vertraut
gemacht
hatten.
Nun
verfügte er über
zwei
Waffen.
Unterdessen war es dunkel geworden, er fror und hatte Durst. Vermutlich hatte
man nicht die Absicht, ihn verhungern zu lassen, sonst hätte man ihm nicht das erste
Essen gebracht. Also würde früher oder später wieder jemand kommen. Eine Weile
erwog er, gegen die Tür zu schlagen und zu schreien, um Aufmerksamkeit zu
erregen.
Doch
das
hätte die Wache
nur
misstrauisch
und
vorsichtig
gemacht,
während er sie lieber sorglos sah. Sie sollte ihn für apathisch halten. Besser, ich
warte, dachte er. Er steckte den Dolch in seinen Strumpf. Dann schüttelte er die
Matratze aus, um etwaige Wanzen loszuwerden, legte sich hin und rollte sich wie
eine Katze zusammen. Im nächsten Augenblick war er friedlich eingeschlafen.
Adelaide hatte die kleine Lampe, die man ihnen überlassen hatte, richtig eingestellt
und wandte sich nun nägelkauend Becky zu. »Bist du mit den Schachfiguren fertig?«,
fragte sie stirnrunzelnd. »Fast.«
»Dann beeile dich.«
Da ihr sonst nichts eingefallen war, um die Nerven Ihrer Majestät zu beruhigen und
einen
drohenden
Herzanfall
zu
verhindern,
hatte
sie
eine
Partie
Schach
vorgeschlagen. Daraufhin hatten beide ein Schachbrettmuster in den Staub auf dem
Fußboden gezeichnet. Becky war damit beschäftigt, aus Papierfetzen und losen
Fäden von Vorhangquasten Figuren zu basteln. Das war nicht leicht, und als sie die
eine Hälfte der Bauern im Kaminruß rieb, um sie einzuschwärzen, brach sie sich
einen Fingernagel ab.
»Ich habe keine Quasten mehr«, sagte sie.
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