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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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vor euch habt?« Die beiden Soldaten gafften mit
offenem Mund, als Adelaide die Kapuze abnahm und auf sie zutrat. Ein Student hielt
eine Laterne hoch, damit die Soldaten ihr Gesicht sehen konnten.
    Der eine schaute
den
anderen
unschlüssig
an,
doch
sein
Kamerad,
der
ein
verwundertes Gesicht machte, präsentierte bereits das Gewehr. Schließlich besann
sich auch der Erste und nahm die gleiche Haltung wie sein Kamerad ein.
    »Wenn doch Becky hier wäre«, sagte Adelaide halblaut. »Jim, sag ihnen, ich hätte
den Befehl gegeben, die Fahne einzuholen. Fremde Truppen seien einmarschiert
und wir beabsichtigten, die Fahne nach Wendelstein zu bringen. Wenn sie uns
helfen wollen, sollen sie mit uns kommen.«
Jim übersetzte mit Karls Hilfe. Die beiden Soldaten schauten sich wieder an, der
Zweifel stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
    »Aber, Eure Majestät - die Adlerfahne bleibt doch auf dem Felsen, solange der
Monarch lebt. Wir sind hier, damit die Fahne frei wehen kann, nicht, um sie einzuholen !«
    Adelaide nickte rasch
und
sagte:
»Ich
weiß.
Und
ihr
seid
alle beide gute
Wachsoldaten. Aber deswegen bin ich ja hierher gekommen. Ich selbst werde die
Fahne tragen. Wenn wir sie nicht holen -«
    Sie brach ab, denn aus der Richtung des Bahnhofs drangen das Knattern von
Schüssen und kurz darauf das Dröhnen eines Artilleriegeschützes. Alle drehten die
Köpfe. Jim übersetzte rasch Adelaides Worte und fügte noch hinzu: »Das sind die
Deutschen, die man da hört. Ein Verräter am Hof hat versucht, die Königin unter
Arrest
zu
stellen,
und
fremde Truppen
ins
Land
gerufen.
Ihre
Majestät
sollte
erschossen werden, aber wir konnten rechtzeitig entkommen. Würden Sie wohl
jetzt den Befehl Ihrer Majestät befolgen und die Fahne einholen?«
Einer der beiden Männer sah gequält zur Fahne hinauf.
    »Wir sind hier, um die Fahne zu bewachen!«, wiederholte er. »Das ist wichtiger als
jeder König oder jede Königin! Die Fahne weht hier seit über fünfhundert Jahren ...
Und die ganze Zeit über haben Männer wie ich die Fahne bewacht ... Ich kann
einfach nicht, Majestät. Selbst wenn das da unten die Deutschen sind, müssen wir
die Fahne weiterhin bewachen!« Adelaide begriff so viel, dass sie wusste, was sie zu
erwidern hatte.
    »Ihr habt ja Recht«, sagte sie. »Und wenn Walter von Eschten noch lebte, wäre er
genauso stolz auf euch, wie ich es bin. Aber er hatte es noch nicht mit Kanonen zu
tun, wie die da unten welche haben -«
Denn erneut ertönte Kanonendonner. Jetzt waren auch Schreie zu hören und Rauch
stieg unweit des Bahnhofs auf.
    »Wenn die Fahne hier bleibt«, fuhr Adelaide in einer Mischung aus Deutsch und
Englisch fort, »wird das Land keine Stunde standhalten. Wenn sie jetzt hierher
kommen, stehe ich an eurer Seite und kämpfe mit euch. Aber wenn wir die Fahne
mitnehmen, können sie nicht behaupten, Raskawien erobert zu haben, denn sie
haben die Fahne nicht! Und denkt - denkt, was Walter von Eschten vor all den
Jahren getan hat! Er ließ die Fahne einholen und nahm sie mit nach Wendelstein,
auf die Burg dort. Könnt ihr euch erinnern? Und von dort kämpfte er gegen die
Böhmen und besiegte sie. Und das werden wir auch tun. Wir bringen die Fahne nach
Wendelstein. Und jeder im Land wird begreifen, was das bedeutet. Alle werden sich
uns anschließen und gemeinsam schlagen wir die Deutschen. Versteht ihr jetzt?
Kommt mit uns nach Wendelstein und rettet die Fahne!«
    Für mehrere Sekunden herrschte Stille. Keiner rührte sich. Ein Kampf zwischen
Disziplin und Phantasie tobte im Innern des zweifelnden Wachsoldaten. Schließlich,
nach etwa einer halben Minute, hatte die Phantasie gewonnen.
Er rammte den Gewehrkolben neben sich in den Boden und salutierte.
     
»Gefreiter Schweigner«, sagte er. »Majestät, ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
     
»Unteroffizier Kogler«, sagte der andere. »Wir kämpfen auf Ihrer Seite, Majestät.«
Sie konnte nicht umhin, vor Freude in die Hände zu klatschen.
     
»Gratuliere«, jauchzte sie. »Holt die Fahne ein.« Sie stürmten zum Fahnenmast. Zur
selben Zeit hörte Jim einen Pfiff vom Bahnsteig hinter ihnen und lief zum Gatter.
    »Sie hat mit dem Faden Signal gegeben«, rief Fritz. »Unten muss etwas passiert
sein!« Jim sprang auf den tiefer gelegenen Bahnsteig, wo Fritz kauerte. Beide
schauten angestrengt den Abhang hinunter. Der dunkle Schienenstrang führte, von
der Ausweichstelle abgesehen, gerade wie ein Pfeil zur Talstation.
»Dort unten ist jemand auf dem Bahnsteig«, flüsterte

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