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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Bahnschwellen verkeilte. Der Wagen hielt mit einem Ruck, so dass das
Seil wie eine Harfensaite vibrierte.
»Zurück«, rief Jim. Sie kletterten über die Schienen und dann zum Bahnsteig, wo sich
ihnen helfende Hände entgegenstreckten.
    »Hört zu«, fuhr Jim fort. »Willi und Michael sind wieder zurück. Kutschen und Pferde
sind nirgends aufzutreiben, aber auf einem Rangiergleis steht der königliche Zug
abfahrbereit.
Ich
vermute,
dass
da
jemand
türmen
will,
aber wenn
wir
ihm
zuvorkommen, können wir den Zug nehmen. Wir teilen uns jetzt in verschiedene
Gruppen auf und gehen getrennt: Ich und Gefreiter Schweigner gehen mit Becky
und der Königin; Unteroffizier Kogler geht mit Karl und seiner Truppe; der Rest
schlägt sich allein durch. Ziel ist der Bahnhof, Treffpunkt dieses Denkmal - drei
nackte Frauen - na, ihr wisst schon, welche. Dort unten herrscht Gedränge - wir
müssen so tun, als würden wir uns nicht kennen, und dürfen nur miteinander
flüstern. Aber ich habe einen Plan. Nun geht eurer Wege. Rasch!« Die anderen
stoben davon. Jim half Adelaide die rutschigen Stufen zur Straße hinunter, von wo
aus sie sich auf den Weg zum Bahnhof machten. Adelaide hielt das schwere Bündel,
als ob sie ein Kind in den Armen hielte.
Jim kritzelte unterwegs etwas in sein Notizbuch.
    Von den Fenstern der Privatgemächer des Grafen und der Gräfin hatte man einen
Blick über die Dächer der Altstadt bis hinauf zum Felsen. Der alte Mann senkte den
Feldstecher und setzte sich auf.
»Minna!«, rief er. »Meine Uniform. Leg sie bitte zum Anziehen bereit.«
Die Gräfin fuhr hoch. Sie war auf dem Sofa eingenickt.
     
»Was hast du vor?«
    »Ich wasche und rasiere mich und ziehe meine Uniform an. Dann gehe ich hinunter
zu den Ställen und besorge mir ein Pferd.«
»Aber du bist noch ganz schwach!« »Ich fühle mich so prächtig wie noch nie in
meinem Leben«, behauptete er.
    Er hatte jetzt eine dunkle Gesichtsfarbe, die Augen waren blutunterlaufen; seine
linke Hand zitterte und der linke Fuß hinkte leicht. Doch wie er so vor ihr stand, das
Kinn erhoben, die Schultern durchgedrückt, da wusste sie, was er tun wollte und
dass es das Richtige war. Ihre Augen schienen nicht mehr scharf zu sehen, sie
erkannte keine klaren Konturen, sie sah den Verräter nicht. Was sie sah, war der
stolze junge Offizier, den sie seit vierzig Jahren liebte und der immer noch in ihm
lebendig war.
    Sie suchte seine beste Uniform heraus, die engen dunkelgrünen Hosen mit den
glänzenden
Seitenstreifen,
die Jacke mit
Goldknöpfen
und
Tresse,
dazu
den
schwarzen Tschako mit der roten Feder; dann seine Reitstiefel und den weiten
Mantel; schließlich das Gehänge mit dem langen, gekrümmten Kavalleriesäbel. Sie
half ihm beim Ankleiden. Seine linke Hand war nicht zu gebrauchen; er konnte mit
ihr nicht die Knöpfe zumachen. Um ihm die Verlegenheit zu ersparen, tat sie es für
ihn und sprach nicht darüber. »Mein gutes Mädchen«, scherzte er und strich ihr
über die Wange.
    Er nahm das Lederholster mit dem Revolver, der wieder geladen war, und sie
befestigte es an seinem Gürtel. Zum Schluss warf er sich den weiten Mantel über die
linke Schulter.
    Nun schaute er sie an. Beiden fiel es schwer, zu sprechen. Doch einfache, vertraute
Verrichtungen wie Ankleiden, Zuknöpfen, Kämmen, dazu die Haltung, das erhobene
Kinn und die liebevolle Geste, dem anderen über die Wange zu streichen - alles das
reichte tiefer als die Scham.
Er küsste ihr graues Haar und ging hinaus.
    Der deutsche General hatte Gödel eine Stunde Zeit gegeben, um ihm die Fahne zu
überbringen, und er stand zu seinem Wort. Doch als nach sechzig Minuten niemand
erschienen war, ließ er sich sein Pferd holen. Er überließ es seinem Stellvertreter,
die schreiende, drängende Menge auf dem Bahnhofsvorplatz in Schach zu halten,
und verließ, nur von seinem Adjutanten begleitet, durch einen Seitenausgang den
Bahnhof. Der junge Offizier schaute in den Stadtplan und gab ein Handzeichen,
worauf der General sein Pferd in Richtung Felsen lenkte.
»Wissen Sie, Neumann«, sagte er zu seinem Adjutanten, während sie durch die
unruhigen Straßen ritten, »ich glaube, dahinter steckt noch etwas anderes. Es würde
mich nicht überraschen, wenn dieser Gödel eigene Pläne verfolgt. Na, umso besser.«
»Warum, Herr General?«
    »Politik, junger Mann. Wenn es darum geht, für Politiker die Kartoffeln aus dem
Feuer zu holen, sind wir immer willkommen. Ist das der Felsen? Und oben ein Seilbahnwagen und Männer, die mit

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