Das Banner des Roten Adlers
Laternen winken?« Sie schauten durch eine Lücke
in der Häuserzeile. Der General lenkte höflich sein Pferd zur Seite, um einem jungen
Paar Platz zu machen: Das schlanke Mädchen in Mantel mit Kapuze hielt, so schien
es, ein
Kind
im Arm. Der junge Mann
neben ihm trug eine Joppe und hatte
schützend den Arm um seine Schulter gelegt. »Da oben muss etwas passiert sein«,
sagte der Adjutant. »Schauen Sie, die Seilbahn ist defekt oder blockiert.« Der
General hatte den gleichen Eindruck. Er ließ die Zügel klatschen und sein Adjutant
tat es ihm gleich. Die Hufe der Pferde klapperten laut auf dem Pflaster, als sie auf
die Talstation zusprengten.
Etwa zur gleichen Zeit entdeckten zwei ältere Brüder -Räuber, die sich auf Einbrüche
in
Häuser
am
Fluss
spezialisiert
hatten
und
ihre
Beute gewöhnlich
in
einem
Ruderboot fortschafften -, dass neben dem Boot eine Leiche trieb.
Leichen
waren
ihr
Geld
wert,
wenn
man
sie rechtzeitig
in
die Anatomie der
Universität brachte. Es lohnte daher durchaus, den viel versprechenden Einbruch in
das Tabaklagerhaus zu verschieben und stattdessen die Tote ins Boot zu hieven.
Für eine Leiche sah sie noch gut aus: dunkles Haar, rote Lippen, wohlproportionierte
Figur. Verständlicherweise waren sie enttäuscht, als sie Lebenszeichen gab und
Wasser ausspuckte. Der Versuchung, ihr den Kopf einzuschlagen und eine echte
Leiche aus ihr zu machen, widerstanden sie aber, denn die räuberischen Brüder
hatten eine sentimentale Ader. Während Miroslaw das Boot heimwärts zu ihrem
baufälligen Haus in der Altstadt von Eschtenburg ruderte, rieb Josef der Frau die
Hände, half ihr, sich aufzusetzen, und hielt ihr eine Flasche Zwetschgenschnaps an
die Lippen. Schon bald atmete sie wieder regelmäßig und sie schlug die Augen auf.
»Ich glaube, sie ist von den Toten auferstanden, Sla-wa!«, meldete Josef.
»Ja, noch ein paar Minuten, dann sind wir auf dem Trockenen. Was für ein Glück Sie
hatten, Gnädigste, dass wir gerade eine kleine Bootspartie machen wollten. Wir sind
gleich daheim. Dann bringen wir Sie wieder auf die Beine ...«
Die Figurengruppe, von der Jim gesprochen hatte, war eine Allegorie des Friedens,
welche die Tribute des Handels und der Kunst entgegennahm. Die drei Figuren
waren in Bronze gegossen und standen auf einem Marmorsockel. Ein unmittelbarer
Bezug
zur
Eisenbahngesellschaft
war
nicht
zu
erkennen.
Die drei
korpulenten
fröhlichen Grazien bildeten einen beliebten Treffpunkt der Bürger Eschtenburgs und
jetzt, da die Menge die deutschen Truppen, die auf dem Bahnhofsvorplatz Stellung
bezogen hatten, mit Spottliedern verhöhnte, waren Frieden, Handel und Kunst
beliebter denn je. Mehrere Halbwüchsige waren auf das Denkmal geklettert; einer
saß sogar rittlings auf den breiten Schultern des Friedens und verunglimpfte lauthals
die Besatzer. Für Jim und die anderen brachte die Unruhe ringsum den Vorteil, dass
sie sich unbemerkt unterhalten konnten. Er sprach zuerst mit Anton.
»Anton, du bleibst in der Stadt. Hier, nimm diese Notizen - ein erster Entwurf - und
mach daraus ein Flugblatt. Lass es setzen und in so vielen Exemplaren drucken, wie
du Papier auftreiben kannst. Verteilt sie, klebt sie überall in der Stadt, schiebt sie
unter die Türen. Wichtig ist, dass die Leute erfahren, was passiert ist: Die Königin ist
auf Gödels Betreiben verhaftet worden und sollte erschossen werden, aber sie
konnte fliehen; sie hat die Fahne in Sicherheit gebracht; wie Walter von Eschten
bringt sie sie nach Wendelstein. Die Fahne des freien Raskawien weht weiterhin das ist die Botschaft.
Niemand soll denken, die Königin habe aufgegeben oder ihr Land verraten. Geh
gleich an die Arbeit!« Anton nickte, machte eine rasche und unauffällige Verbeugung gegenüber Adelaide und verschwand. Jim gab Karl ein Zeichen, worauf der
erklärte: »Wir müssen zu dem Rangiergleis rechts vom Bahnhof in der Nähe des
Hotels. Dort bei dem Stellwerkhäuschen. Michael sagt, der königliche Zug stehe
dort, die Lokomotive sei schon unter Dampf. Offenbar will Gödel das Weite suchen,
aber wir werden ihm einen Strich durch die Rechnung machen, wenn wir nur
rechtzeitig hingelangen. Willis Onkel ist Lokführer; Willi weiß, wie man die Maschine
in Betrieb setzt, und Gefreiter Schweigner kennt sich ebenfalls aus. Die beiden
übernehmen also die Lok. Entscheidend ist, dass die Königin an Bord des Zuges ist.
Sobald sie da ist, fahren wir los, egal wer dann noch fehlt. Trennen wir uns jetzt,
jeder sucht sich seinen Weg
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