Das Banner des Roten Adlers
ihr von dem Vertrag gehört? Damit hätten wir unsere
Souveränität verloren. Kein Wunder, dass der Wortlaut nicht veröffentlicht wurde.«
»Man hätte sie nicht einfach erschießen dürfen -« »Wie? Die Königin ist erschossen
worden?« »In der Burg. Ich habe das Erschießungskommando hineingehen sehen.
Man musste Lose ziehen lassen, und
selbst dann hat sich immer noch die Hälfte der Männer geweigert, den Befehl
auszuführen!« »Ich werdet es nicht glauben - Prinz Leopold ist am Leben. Mein
Vetter
ist
Lakai
im
Schloss,
und
er
berichtet,
Leopold
soll
eine schreckliche,
entstellende Krankheit gehabt haben, aber nun ist er aus der Verborgenheit wieder
an die Öffentlichkeit gekommen, um im letzten Augenblick sein Land zu retten!«
»Habt ihr schon gehört -« Und so weiter.
Die Straßen waren nicht überall belebt: An manchen Stellen waren sie verlassen, an
anderen drängten sich die Menschen. Eine große Menge versammelte sich vor dem
Bahnhof, aus dem die deutschen Truppen noch nicht ausgerückt waren, obwohl aus
dem Gebäude Geräusche drangen, als würde schweres Kriegsgerät bewegt. Eine
weniger
dichte,
aber dafür
zornigere
Menschenmenge
lief
vor
dem
Schloss
zusammen und schwankte in ihrer Stimmung (wie das bei Menschenmengen üblich
ist) von Augenblick zu Augenblick, bis plötzlich der Ruf »Wir wollen unsere Königin!
Wir wollen unsere Königin!« aufkam. Menschen, die vor zehn Minuten noch nicht
gewusst hatten, was sie wollten, spürten plötzlich das Verlangen, Adelaide zu sehen
und sie zu beschützen gegen - ja, wogegen eigentlich? Aber sie waren zu ihrer
Verteidigung zu allem entschlossen.
Im Schloss bemühte sich Baron Gödel, Herr der Lage zu bleiben, obgleich er von
Minute zu Minute weniger wusste, wie die Lage eigentlich aussah. Der Einmarsch
deutscher Truppen hatte ihn völlig überrascht. Er hatte erwartet, dass die Deutschen
ihm aus der Distanz den Rücken stärken würden, wenn er Leopold wieder auf den
Thron verhülfe. Was jetzt geschah, war nicht geplant. Auf der Suche nach einem
Schuldigen
war
er in
die Privatgemächer des
Grafen
und
der Gräfin
Thalgau
eingedrungen. Die Gräfin versuchte, ihn aufzuhalten, doch er drang unbeirrt bis ins
Schlafgemach des Grafen vor, in dem er einen alten Mann auf dem Krankenlager
antraf. Der Graf war nicht wiederzuerkennen, das Gesicht schmerzverzerrt, die
Augen schwarz umschattet, der einst so stolze Schnurrbart wie ein Strohbüschel
durcheinander.
Sogar
Gödel
erschrak
über
die Veränderungen
an
dem
alten
Haudegen.
»Was hatten Sie mit Berlin vereinbart?«, fragte er. »Ich bestehe auf einer sofortigen
Antwort.« Der Graf warf ihm einen kurzen Blick zu und schloss die Augen. »Wo ist
die Königin?«, fragte er leise. »Verdammt noch mal, Thalgau. Beantworten Sie
meine Frage! Was haben Sie mit Bismarck vereinbart?« Der Graf stöhnte. Es war ein
tiefes Stöhnen, das vom Grund seiner Seele aufzusteigen schien. »Ich hatte keine
Vereinbarung mit Bismarck, sondern mit seinem Bankier. Ich sollte ihm den Inhalt
des Vertrags vierundzwanzig Stunden vor der Unterzeichnung heimlich mitteilen,
das war alles. Im Gegenzug ... eine Summe Geld. Ich bedauere es zutiefst. Ich wusste
nicht ... hätte mir die Kugel geben sollen ... Doch was Sie getan haben, Gödel ... Prinz
Leopold ... das ist tausendmal schlimmer ... Wo ist die Königin? Was haben Sie mit
der Königin gemacht?«
Während er sprach, richtete er sich unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft auf
und starrte, blass wie ein Leintuch gezeichnet, Gödel wie ein Gespenst an. Der wich
einen Schritt zurück.
Doch ehe er etwas erwidern konnte, kam sein Adlatus herein, salutierte ungeschickt
und
gab
dem
Oberhofmeister
ein
Papier,
das
dieser
mit
zitternden
Fingern
entgegennahm.
»General
von
Hochberg
an
Baron
Gödel
...«,
las
er.
»Wer ist
General
von
Hochberg?« »Der Befehlshaber der deutschen Truppen«, stotterte der Adlatus. »Die
Nachricht kam vor einer Minute durch einen Boten vom Bahnhof Tristan-Brücke.«
Der Oberhofmeister las:
Wie ich erfahren habe, ist das Instrument der Übertragung der staatlichen Vollmacht
die Fahne, die auf dem Felsen weht. Sorgen Sie dafür, dass diese binnen einer Stunde
zu meinem Wagen im Bahnhof Tristan-Brücke gebracht wird. Andernfalls werde ich
meinen Männern befehlen, sie mit Gewalt zu holen.
Gödel taumelte.
Das Papier fiel ihm aus der Hand und er musste sich am Arm seines Gehilfen
festhalten.
Dann richtete er sich
wieder auf. Ohne
den Grafen
und
die Gräfin
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