Das befreite Wort
damit – wie sich im Nachhinein herausgestellt hat – vermutlich mehreren Menschen das Leben gerettet hat. Zur verantwortungsethischen Haltung des Polizeipräsidenten passt, dass er nach der Katastrophe in Duisburg 2010 bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Strafanzeige gegen die Verantwortlichen erstattet hat.
Auch solche Fälle sind in den letzten Jahrhunderten in allen Teilen der Welt vorgekommen – und sie weisen darauf hin, wo genau das Potenzial zur positiven Veränderung, zur Entwicklung einer neuen Kultur in Unternehmen, Organisationen oder Teams zu suchen und zu finden wäre: in der Verantwortung und im Gewissen jedes Einzelnen! Dort also, wo nicht materiale, sondern allenfalls formale Normen hinreichen. »Formale« Normen bedeuten: Die »Norm« trifft keine inhaltlichen Festlegungen, sondern gibt dem Handelnden, der nach Orientierung für sein Handeln sucht, einen formalen Anhaltspunkt, wie etwa der kategorische Imperativ Immanuel Kants: »Handle so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.« Der Jesuit und Managementberater Rupert Lay hat als formale Norm das von ihm so benannte Biophilie-Postulat vorgeschlagen: »Handle stets so, dass durch Dein Handeln personales Leben eher gefördert als behindert wird.« Doch wie auch immer die formale Norm im Einzelnen formuliert wird, entscheidend dabei ist:
Erstens: Jede Organisation muss sich die Mühe machen, ihre höchsten Werte zu definieren, denen sie sich ehrlicherweise verpflichtet fühlen will: Leben, Freiheit, Gesundheit, das Glück der größten Zahl, Besitzmehrung … – es gibt viele Möglichkeiten!
Zweitens: Jeder Einzelne in dieser Organisation kann und muss entscheiden, ob er diese Wertsetzung teilen mag.
Drittens: Jeder Einzelne kann und muss im Konfliktfall (und alle anderen Fälle sind ethisch uninteressant) selbst entscheiden, wie genau er die allgemeine Regel unter den jeweiligen individuellen Umständen anwendet, das heißt: Er muss sittliche Verantwortung tragen und kann diese weder an die nächsthöhere Führungsebene noch an die Buchstaben der Corporate-Governance-Gesetze und – Verhaltenskataloge abgeben.
Das ist viel verlangt, aber doch wohl kaum zu viel – insbesondere nicht von Führungskräften und Entscheidungsträgern. Denn was, wenn nicht eben jenes sittliche Vermögen qualifiziert einen Menschen zur Führungskraft und zum Entscheider (und was sonst könnte auf lange Sicht deren Image in Politik, Wirtschaft und Kultur verbessern)? Übrigens: Ganz nebenbei würde die Konzentration auf einen Kernbestand formaler Normen auch das Volumen von Corporate-Governance-Werken entscheidend verringern und damit die Lektürewahrscheinlichkeit beträchtlich erhöhen! Formale Verhaltensnormen nebst wenigen Erläuterungen oder veranschaulichenden Beispielen passen auf die Vorder- und Rückseite eines DIN-A-4-Blattes!
Alles Theorie? Durchaus nicht! Es gibt Organisationen und Unternehmen, die den Weg formaler Leitsätze schon heute gehen. Zumindest gibt es durchaus Unternehmen, die ihren Mitarbeitern in entsprechenden Publikationen nahebringen, »wie ethische Entscheidungen« prinzipiell und unabhängig von bestimmten inhaltlichen Einzelaspekten getroffen werden. Bei der Linde Group etwa, einem deutschen Global Player für Technische Gase und den Anlagenbau, finden sich im Verhaltenskodex unter anderem diese als Leitfragen formulierten Hinweise, anhand deren Beschäftigte ihr Verhalten in einem konkreten Entscheidungsfall ethisch selbst bewerten können:
»Könnten Sie guten Gewissens, ohne dabei Scham oder Verlegenheit zu empfinden, Ihrem Vorgesetzten, Ihren Kollegen, Ihrer Familie oder Ihren Freunden erklären, was Sie getan haben?
[…]
Wäre für das Unternehmen der Fall akzeptabel, dass Ihre Entscheidung in einer Zeitung erscheinen würde?
[…]
Als Mitarbeiter eines internationalen Unternehmens stellen
Sie sich die Frage, wie Ihre Entscheidung in einem globalen Zusammenhang gesehen werden würde. Wäre Ihre Entscheidung noch immer dieselbe?«
Das bedeutet natürlich nicht, dass mit solchen einfachen Leitsätzen für alle Zeit alles gesagt wäre. Im Gegenteil, gerade die Umsetzung ethischer Normen in die vielgestaltigen Fälle der Realität erfordert den permanenten Dialog, womit wir zur zweiten Frage kommen: Was hat all das mit Rhetorik und mit König Heinrich V. zu tun?
Ein Beispiel aus der Praxis soll die Antwort geben. Folgende Situation: Ein
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