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Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sprong
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andere, ebenso unverzichtbare »Zutat« des wahren rhetorischen Erfolgs: den Respekt vor der sittlichen Ebenbürtigkeit der Zuhörer. Sie macht die Menschen im Publikum zu »Brüdern« (siehe Heinrich V.). Denn: So wie der Redner sich entscheiden darf und muss, so muss sich auch der Zuhörer jederzeit entscheiden dürfen und »frei« bleiben. Handle so, dass Du den Menschen »jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« – dieser Imperativ Immanuel Kants gilt auch und ganz besonders für den Redner und sein Publikum.
    Und er gilt bereits für die Soldaten bei Heinrich V. : Sie dürfen und sollen sogar gehen, wenn sie die Wertvorstellungen ihres Herrschers nicht teilen, die er klar herausstellt und transparent vermittelt. In seinem Fall (und für uns wohl nur bedingt zu akzeptieren) sind diese höchsten Werte: Ehre und Vaterland! Wer beispielsweise Leben und Familie höher schätzt, wird sich entfernen (»entscheiden«). Wer aber bleibt, bleibt aus Überzeugung – einer Überzeugung übrigens, die er
fast immer schon mitbrachte
die er mitunter vergessen hatte
an die ihn die Rede nicht selten erst wieder erinnern musste
die er aber so gut wie nie durch die Rede erst gewann
    Doch selbst wenn die Rede nicht zu gänzlich neuen Überzeugungen führt – auch die Aktivierung bereits vorhandener Überzeugungen im Zuhörer verlangt vom Redner den Einsatz jenes wichtigen Elements, das die Rede Heinrichs V. bei Shakespeare so eindrucksvoll vorführt: die Gestaltung einer Vision.
    Bei Heinrich ist dies die Beschwörung des nun zum Feiertag erhobenen St. Crispian-Tages, an dem die an der Schlacht beteiligten Soldaten dereinst stolz ihre Wunden zeigen werden. Das klingt für Menschen des 21. Jahrhunderts – vor allem, wenn sie aus westlichen Staaten kommen – merkwürdig. Es gibt aber auch Visionen in unserer Zeit, die die Menschen bewegen können. John F. Kennedy etwa malte 1963 in seiner berühmten Rede in Berlin vor dem Schöneberger Rathaus das Bild einer Welt, die damals noch in ferner Zukunft lag, sogar als utopische Schwärmerei erscheinen mochte, ab 1989 aber doch Wirklichkeit werden konnte. Mit dem an dieser Stelle notwendigen Pathos forderte er die Menschen – so wie Heinrich seine Soldaten – auf:
    »[…] Lift your eyes beyond the dangers of today, to the hopes of tomorrow, beyond the freedom merely of this city of Berlin, or your country of Germany, to the advance of freedom everywhere, beyond the wall to the day of peace with justice, beyond yourselves and ourselves to all mankind.
    Freedom is indivisible, and when one man is enslaved, all are not free. When all are free, then we can look forward to that day when this city will be joined as one and this country and this great Continent of Europe in a peaceful and hopeful globe.
    When that day finally comes, as it will, the people of West Berlin can take sober satisfaction in the fact that they were in the front lines for almost two decades. (Jubel)
    All free men, wherever they may live, are citizens of Berlin, and, therefore, as a free man, I take pride in the words ›Ich bin ein Berliner‹. (Jubel)« 30
› Hinweis
    Das Video der gesamten Rede im Blog zum Buch unter:
http://www.nicolai-verlag.de/das-befreite-wort-blog/?p=162
    Ob Heinrich oder Kennedy: Das, was sie vortragen, sind zunächst Wunschbilder. Auch Kennedy wusste 1963 nicht, ob sich die Dinge jemals so entwickeln würden, wie er sie schilderte. Und doch handelte es sich um mehr als nur »Träumereien« oder »Phantastereien«. Sowohl Kennedy als auch Heinrich finden eine sprachliche Gestalt für genau jene Wünsche, Erwartungen und Sehnsüchte, deren Erfüllung für ihre Zuhörer – und das ist entscheidend – von zentraler persönlicher Bedeutung ist. Das heißt: In ihren Formulierungen spiegeln sie die tiefsten Hoffnungen ihrer Zuhörer (die zu kennen besonders Heinrich glauben darf, da er seinen Soldaten in der Nacht zuvor ja gut zugehört hat). Und »billiger« ist eine überzeugende Vision auch in der Redewirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht zu haben!
    Hätte Heinrich es heutigen Entscheidungsträgern nachgetan, hätte er zum Abschluss seiner Rede wohl vor allem die Zukunft der englischen Armee in schillernden Farben ausgemalt und den englischen Herrschaftsanspruch in Teilen Frankreichs bekräftigt – noch wahrscheinlicher aber hätte er sich mit einer Zusammenfassung seiner wichtigsten Botschaften begnügt. Mit anderen Worten: Er wäre »bodenständig«

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