Das befreite Wort
Shakespeare-Helden lautet: Gewähren Sie Gewissensfreiheit! Denn der entscheidende »Dreh« in Heinrichs Ansprache besteht darin, dass er den Soldaten – ernsthaft – die Teilnahme an der Schlacht freistellt. Damit delegiert er die Verantwortung für das eigene Schicksal und das Schicksal des Landes an das individuelle Gewissen der Soldaten zurück. Sie müssen alle jene Entscheidungen, die der König getroffen hat, für sich selbst ebenfalls treffen. Auch sie müssen abwägen und »entscheiden«, welche Werte und Güter sie für sich höher bewerten: das persönliche Leben und ihre Unversehrtheit oder den bedingungslosen Einsatz für ihr Land, bei dem Ehre, Ansehen und Ruhm zu gewinnen sind.
Diese Rückdelegation der Verantwortung für das eigene Leben und für die eigenen Überzeugungen nimmt die Zuhörer in ihrer sittlichen Souveränität ernst. Und das bedeutet: Sie gibt den Soldaten den Kern ihrer menschlichen Würde zurück, die sie selbst – die Last dieser Verantwortung fliehend – einzuschränken bereit waren, indem sie zuvor (an den Lagerfeuern) die Verantwortung für ihr Schicksal allein dem König und seinen Entscheidungen anheimstellten.
Deshalb vor allem kann er sie – auf dem Höhepunkt der Rede, in die Zukunft blickend – als »Brüder« ansprechen: weil er ihnen in der Berufung auf die gemeinsame menschliche Würde jenseits aller Standesunterschiede »auf Augenhöhe« begegnet. Freiheit des Willens und Würde der Selbstverantwortung bilden das innere Band, das König und Soldaten zu jener »band of brothers« werden lässt, die der Herrscher in seiner Rede beschwört. Entscheidend dabei ist, dass er diese Verbindung schon während der Rede herstellt, sie bereits in der Gegenwart fühlbar werden lässt – nicht erst (wie es der Inhalt des Textes vermuten ließe) in einer fernen Zukunft.
Was bedeutet dies für öffentliche Reden in der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts? Gibt es – insbesondere für Führungskräfte – tatsächlich die Option, »Gewissensfreiheit« oder gar »Handlungsfreiheit« zu gewähren – in der Ansprache an die Mitarbeiter, auf dem Parteitag oder vor der parlamentarischen Abstimmung?
Die hier vertretene These lautet: Es gibt diese Option weit öfter, als es die stillen – und manchmal auch laut ausgesprochenen – Klagen von Rednerinnen und Rednern vermuten lassen. Und wo die Option der Gewissensfreiheit für Zuhörer nicht zu bestehen scheint, resultiert dieser Eindruck weit öfter aus innerpersönlichen Befindlichkeiten 26
› Hinweis
der Redner als aus den äußeren Gegebenheiten.
Richtig ist wohl zu sagen: Nur dann ist der Appell an die Selbstverantwortung der Zuhörer nicht möglich, wenn diesen objektiv keine realistischen Handlungsalternativen offenstehen – also in Zwangssituationen. Diese bestehen zum Beispiel in diktatorischen Systemen, wenn die Entscheidung gegen die Position des Redners Tod oder Verfolgung bedeutet. Der Appell an die selbstverantwortliche Gewissensentscheidung ist aber auch dann mindestens problematisch, wenn zum Beispiel abhängig Beschäftigte aufgrund von Ausbildung, Alter oder ähnlichen Faktoren ihren Arbeitsplatz nicht wirklich infrage stellen können. So ist es nicht sinnvoll, einem über fünfzigjährigen Facharbeiter in einem Produktionsbetrieb die Wahlmöglichkeit anzubieten, entweder die Werte der neuen Unternehmenskultur mitzutragen oder das Unternehmen zu verlassen. Für die Mehrheit der Führungskräfte in Unternehmen und Organisationen jedoch besteht eine solche Zwangssituation in der Regel nicht.
Für Redner, die sich an diese Zielgruppe oder auch an parlamentarische Abgeordnete wenden, ist die Gewährung von Gewissens- und Handlungsfreiheit daher eine fast unverzichtbare Voraussetzung des rhetorischen Erfolgs. Die damalige FDP-Bundestagsabgeordnete Hildegard Hamm-Brücher etwa sprach sich 1982 gegen den wesentlich von ihren Parteiführern herbeigeführten Machtwechsel aus. Auch wenn sie die Abstimmung im Misstrauensvotum nicht mehr grundsätzlich beeinflussen konnte, so war es doch eine rhetorische Sternstunde des Parlaments, weil sich Frau Hamm-Brücher in ihrer Rede ausdrücklich auf die Gewissensfreiheit und damit auch die Gewissensverantwortung des einzelnen Abgeordneten berief.
Auch John F. Kennedy hat seinen rednerischen Erfolg immer wieder darauf gegründet, dass er – an die Eigenverantwortung seiner Zuhörer appellierend – das institutionelle Gefälle zwischen ihnen und sich selbst im
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