Das befreite Wort
geht darum, dass wir dann – wenn es so weit ist – die modernsten Anlagen und damit umgekehrt unseren Wettbewerbern gegenüber einen Vorteil haben werden. Im Ergebnis wird uns das einen zusätzlichen Gewinn in Höhe von vielen Millionen Euro bescheren. Und das ist Geld, das wir in dieser Stadt dringend brauchen: für mehr Kindergartenplätze, für bessere Sozialleistungen und für bessere Straßen. Richtig ist: All das gibt es nicht zum Nulltarif. In diesem Fall werden wir uns von einem Naturschutzgebiet trennen müssen. Angesichts der Möglichkeiten aber, die uns der Gewinn eröffnet, ist dieser Preis nicht zu hoch.«
Die Frage wäre dann nicht mehr »Naturschutz oder Profit«, sondern »Naturschutz oder Gemeinwohl« (pointierter: Menschenschutz, soziale Stabilität etc.). Die Alternative lautet also nicht: Wert gegen Un-Wert. Sondern: Wert gegen Wert. Der »Mann von der Stadt« würde eben »für die Stadt« stehen. Die Protestler für »die Natur«. Die Zuhörer müssten sich entscheiden: »Welcher Wert wiegt – für mich persönlich – schwerer?« Und, besonders wichtig: Der Mann von der Stadt hätte sich bei seinem Auftritt deutlich wohler gefühlt, denn er hätte sich nicht verstellen müssen. Schon allein und vor allem deshalb wäre sein Plädoyer überzeugender gewesen.
Nun hat das Unternehmen der Stadt gar keinen Corporate-Governance-Index, nicht einmal ein Leitbild. Aber auch wenn nichts dergleichen aufgeschrieben ist, existiert es in den Köpfen und Herzen der Mitarbeiter dennoch. Und es ließe sich wahrscheinlich etwa folgendermaßen formulieren:
Erstens: Als Tochterunternehmen der Stadt ist unser oberstes Unternehmensziel die Mehrung des Gemeinwohls.
Zweitens hieße es aber wohl auch: Dass dies unser oberstes Ziel ist, sollen die Menschen daran erkennen, dass wir allem wirtschaftlichen Profitstreben abhold sind. In Form und Inhalt bemühen wir uns daher, vor allem nach außen, den Anschein einer Behörde, keinesfalls aber den eines privatwirtschaftlichen, nach Gewinn strebenden Unternehmens zu erwecken.
»Nach dem Gemeinwohl streben« und »wirtschaftliches Profitstreben vermeiden«: Das klingt auf den ersten Blick konsistent. In Wahrheit aber können diese beiden Ziele leicht miteinander in Widerspruch geraten. Denn wie sollte auf Dauer das Gemeinwohl gemehrt werden, wenn nicht durch die profitable Arbeit der Stadtbetriebe? Städtische Betriebe, die pleitegehen, dienen schließlich nicht dem Gemeinwohl. Das heißt: In der Argumentation des Repräsentanten der Stadt werden Gemeinwohl und Profitstreben als Gegensätze vorausgesetzt. In Wahrheit aber können sie sich zueinander verhalten wie Ziel und Mittel.
Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, sollte sich das städtische Unternehmen möglicherweise einem formal gefassten Leitbild verpflichten, in dem zum Beispiel folgender »Imperativ« gelten könnte: »Handle stets so, dass durch Deine Entscheidung die Sicherheit und Wohlfahrt unserer Bürger insgesamt eher gemehrt als geschmälert wird.«
Wer in dem betreffenden Unternehmen arbeiten will, ganz besonders aber, wer dort Führungs- und Entscheidungsaufgaben übernehmen will, müsste sich zunächst fragen, ob er einer solchen Wertorientierung persönlich folgen möchte. Immerhin schließt sie ja beispielsweise »Sicherheit und Wohlfahrt« der Bürger anderer Städte nicht ausdrücklich mit ein …
Falls eine solche Zustimmung erfolgt, müsste sich unser »Mann von der Stadt« vor der Podiumsdiskussion überlegen, wie er sich in dem vorliegenden konkreten Konfliktfall persönlich – das heißt: in der Legitimation gegenüber seinem eigenen Gewissen! – zu dieser Wertmaxime verhält. Womit ist »der Sicherheit und Wohlfahrt der Bürger insgesamt« mehr gedient? Mit einem Naturschutzgebiet oder einem Millionengewinn? Auf diese Frage gibt es keine »richtige« und keine »falsche« Antwort. Aber es kann – und muss – eine persönliche Antwort geben: als Ergebnis einer individuellen Güterabwägung. Was ist, im Hinblick auf das oberste Ziel, das höhere Gut?
Für Entscheidungsträger an sich mag die Anforderung einer solchen sittlichen Übung noch optional, wenngleich dringend geboten erscheinen. Für Rednerinnen und Redner – so sie denn erfolgreich reden wollen – ist sie unverzichtbar. Denn es geht dabei um das, was für Redner nicht nur im wörtlichen, also räumlichen Sinne unverzichtbar ist: einen klaren Standpunkt! Und es geht – im Blick auf das Gegenüber – um eine
Weitere Kostenlose Bücher