Das befreite Wort
privatwirtschaftliches, jedoch in öffentlicher Trägerschaft der Stadt geführtes Unternehmen wird vom Rat der Stadt mit dem Ausbau eines ihrer Werke beauftragt. Der Ausbau soll vorhandene Kapazitäten umwandeln und erweitern. Dort wo bisher ein Produkt X gefertigt wird, soll in Zukunft ein Produkt Y gefertigt werden. Der Grund dafür ist: Die anderen Werke der Stadt, die schon heute Produkt Y fertigen, können die Nachfrage in der Region auf Dauer nicht mehr befriedigen. Das hat eine gutachterliche Studie im Auftrag der Stadt bestätigt.
Allerdings müssen für die geplante Umstellung der Fertigung von Produkt X auf Produkt Y an dem betreffenden Standort zusätzliche Flächen industriell erschlossen werden. Es wird eine Werkserweiterung notwendig. Diese Erweiterung soll auf einem bis dato unter Naturschutz stehendem Gelände erfolgen, und natürlich ruft dieses Ansinnen Protest hervor. Anwohner und Umweltschützer bilden eine Bürgerinitiative. Es kommt zu den bekannten langwierigen Auseinandersetzungen, unter anderem wird eine Podiumsdiskussion mit Gegnern und Befürwortern der städtischen Pläne anberaumt. Hier nun muss der Repräsentant der Stadt »seine« Position darlegen und möglichst die Argumente der Gegenseite entkräften. Dazu nutzt er zunächst wieder das Kapazitätsargument: »Den zu erwartenden Anstieg der Nachfrage nach dem Produkt Y können wir ohne die Werkserweiterung nicht befriedigen.«
Dagegen argumentieren die Protestler, man könne sehr wohl die insgesamt bestehenden Kapazitäten in allen Werken auf eine Weise neu organisieren, dass unter dem Strich auch ohne Erweiterungsbauten eine zusätzliche Produktion in ausreichendem Maße möglich sei. Auch dies sei aus dem Gutachten klar ersichtlich. Damit haben die Gegner der Werkserweiterung allerdings zunächst ein vergleichsweise schwaches Argument ins Feld geführt, weil man ihnen als Außenstehenden natürlich immer ein Informations- bzw. Kompetenzdefizit vorhalten wird.
Genauso geschieht es auch: »Das geht zwar theoretisch und mathematisch, praktisch aber nicht«, kontert der Funktionsträger der Stadt und verweist zur Begründung auf technische Umstände, die in der Sache zwingend scheinen. Ob es sich aber tatsächlich so verhält, ob also der Redner in seiner Erläuterung der Sachzwänge die Wahrheit sagt, ist durch die Zuhörer von außen weder zu widerlegen noch zu bestätigen. Es sieht also zunächst argumentativ nicht schlecht aus für die Position der Stadt.
Dann aber zieht der Sprecher der Protestpartei seinen wichtigsten Trumpf: Doch, sagt er, der in der Region zu erwartende Bedarf an Produkt Y sei mit den in der Region vorhandenen Kapazitäten durchaus zu befriedigen, nur eben nicht durch die eigene Stadt! Die Nachbarstädte unterhielten ja schließlich bereits entsprechende Werke zur Produktion von Y, und wer immer dieses Produkt in Zukunft in größeren Mengen kaufen wolle, könne dies ja dann dort tun. Der Profit freilich fließe damit auch an die Nachbarstädte, nicht an die eigene Stadt. Das werde aber durch den Erhalt des Naturschutzgebietes mehr als ausgeglichen.
Großer Beifall im Saal, denn jetzt hat die Auseinandersetzung einen Namen: »Profitgier versus Naturschutz!« Und daraus lässt sich die Folgerung ableiten: Wer für den Profit ist, ist gegen die Natur – und weiter: Wer gegen den Schutz der Natur ist, ist ein schlechter, weil verantwortungsloser Mensch.
Das Problem liegt darin, dass der »Mann von der Stadt« das wirtschaftliche Interesse seines Unternehmens vorher verschwiegen hat. Stattdessen wollte er den Eindruck eines »Sachzwanges« vermitteln, dem man Rechnung zu tragen habe – und Alternativen gebe es nicht, weil wiederum andere Sachzwänge andere theoretisch denkbare Lösungen vereiteln würden. Als Repräsentant eines »städtischen« Unternehmens hielt er es offenbar für unangebracht, wahrscheinlich sogar für ehrenrührig und mithin unvertretbar, offen das finanzielle oder wettbewerbsorientierte Interesse seines Unternehmens anzuführen.
Anstatt eine undurchsichtige Diskussion über Kapazitäten zu führen und sich hinter »Interna« zu verstecken (was ihn den Zuhörern ohnehin suspekt macht), hätte er aber auch ganz anders argumentieren können: »Die Nachfrage nach Produkt Y in unserer Region wird steigen. Die Nachbarstädte können diese Nachfrage wahrscheinlich befriedigen, wir aber werden von dem Aufschwung nicht profitieren, wenn wir nicht unsererseits neue Kapazitäten schaffen. Es
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