Das befreite Wort
wahre Beredsamkeit allezeit die Wahrheit und Tugend zu Gefährten habe« 65
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. Über die bürgerlichen Revolutionen Europas findet dieses Leitbild seinen Weg auch in die politische Rede der Moderne. Seine Wirkung reicht in den parlamentarischen Demokratien des Westens bis in unsere Gegenwart hinein: In Barack Obama etwa verkörpern sich in der lutherisch-reformatorischen Tradition wurzelnde rhetorische Werte ebenso wie bürgerliches Revolutionspathos und republikanische Redetugenden. 66
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Zu Recht wird deshalb immer wieder darauf hingewiesen, dass insbesondere in den angelsächsischen Ländern eine Rhetoriktradition gepflegt wurde, die noch heute in außerordentlich lebendigen parlamentarischen Debatten oder eben auch präsidialen Ansprachen zu bewundern ist. Und in der Tat besteht kein Zweifel, dass sich das dort herrschende hohe Niveau der Redekunst einer langen republikanischen Geschichte dieser Länder verdankt. Aber auch in Deutschland gab es viele Ansätze zu einer als positiv zu bewertenden Rhetoriktradition. So wenig die deutsche Geschichte durchgehend anti-parlamentarisch oder anti-republikanisch verlief, so wenig ist die Geschichte der Rhetorik in Deutschland ausschließlich von Diktatoren, Agitatoren und Volksverführern geprägt. Sie hat ja durchaus beherzte und rhetorisch höchst versierte Prediger wie Martin Luther und Thomas Münzer, demokratisch-parlamentarisch orientierte Reformer wie Ludwig Uhland und Robert Blum, schillernde Revolutionäre wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, aber auch geistreiche Wissenschaftler und Literaten wie Albert Einstein und Thomas Mann als rhetorische Leitfiguren zu bieten.
Beispiele der Werke dieser Redner und Rednerinnen im Blog zum Buch:
http://www.nicolai-verlag.de/das-befreite-wort-blog
In der Wirkungsgeschichte der Rhetorik allerdings spielt diese Traditionslinie von rhetorischen Verdiensten um Demokratie und Fortschritt in Deutschland nur eine untergeordnete Rolle gegenüber jener anderen historischen Kraft, die am 18. Februar 1943 in der Sportpalastrede des Joseph Goebbels kulminierte. Mit ihr hat sich eine antihumane und antidemokratische Geistes- und Charakterhaltung der emanzipatorischen und auf Befreiung zielenden modernen Rhetoriktradition bemächtigt und damit diese Tradition selbst diskreditiert. Auch heute, über 65 Jahre später, stehen die Redner in Deutschland noch immer im langen Schatten dieses kleinen Mannes.
Aus ihm herauszutreten, ohne deshalb seine Existenz zu leugnen oder gar die Verbrechen dieses Mannes und seiner Gesinnungsgenossen zu relativieren, ist Teil der Aufgabe für die »viri boni« von heute. Weder in der Wirtschaft noch in Kultur und Politik ist eine Abkehr von der Rhetorik oder eine »Neue Rhetorik« notwendig, um das öffentliche Reden im tieferen Sinne des Wortes »attraktiver« zu machen. Ausreichen würde es schon, wenn es gelänge, das antike Konzept des »vir bonus« mit neuem Leben zu erfüllen – und zwar als Zweck an sich, nicht nur als Mittel zum Zweck des kurzfristigen Erfolges. 67
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Für eine solche Befreiung der Rhetorik vom Mythos der Manipulation und für eine solche Rückbesinnung auf ein nicht nur vorgetäuschtes, sondern ernst gemeintes Ideal des »vir bonus« müssen sich jedoch zunächst vor allem die Redner selbst befreien: von einigen Irrtümern über sich und ihre Rolle. Das folgende Kapitel will zwei dieser Irrtümer aufdecken.
Eine Violine ohne Ton
Was sich ändern müsste II: Die Befreiung von der »Sünde der Eitelkeit«
In seinem Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull schildert Thomas Mann zwei Begebenheiten, die – auf höchst humorvolle Weise – wie in einem Brennglas die komplexe Grundproblematik jeder Form von Präsentation der eigenen Person verdeutlichen. Die erste Begebenheit ist dem Selbstkommentar des Helden nach die »vielleicht schönste seines gesamten Lebens«. Sie trägt sich zu in seinem achten Lebensjahr, als die »liederlich bürgerliche Familie« – der füllige Vater ist in Mainz Inhaber einer »Schaumwein-Fabrik« – zum Kuraufenthalt in Langenschwalbach weilt. Die Kontakte der Krulls zu den anderen Kurgästen, insbesondere zu den wohlhabenden und angesehenen Familien, sind nur flüchtig und oberflächlich. Vor allem Krull junior erfreut sich an den Kurkonzerten, die im Kurpark regelmäßig von der örtlichen Kapelle gegeben werden. Auf geradezu schwärmerische Art zeigt er sich begeistert und imitiert abends im Hotel
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