Das befreite Wort
den Geiger des Ensembles so trefflich, dass sein Vater mit dem »langhaarigen und fast stimmlosen Kapellmeisterchen« die folgende »Komödie« verabredet:
»Eine kleine Violine wird billig erstanden und der zugehörige Bogen sorgfältig mit Vaselin bestrichen. Während sonst für mein Äußeres nicht viel geschah, werden jetzt in einem Basar ein hübsches Matrosenhabit mit Fangschnur und goldenen Knöpfen, dazu seidene Strümpfe und spiegelnde Lackschuhe fertig angeschafft. Und eines Sonntagnachmittags, während der Kurpromenade, stehe ich, so ansprechend ausstaffiert, zur Seite des kleinen Kapellmeisters an der Rampe des Musiktempels und beteilige mich an der Ausführung einer ungarischen Tanzpièce, indem ich mit meiner Fiedel und mit meinem Vaselinbogen tue, was ich vordem [im Hotelzimmer] mit meinen beiden Stöcken getan. Ich darf sagen, dass mein Erfolg vollkommen war.
Das Publikum, vornehmes und schlichteres, staute sich vor dem Pavillon, es strömte von allen Seiten herbei. Man sah ein Wunderkind. Meine Hingebung, die Blässe meiner arbeitenden Miene, eine Welle Haares, die mir über das eine Auge fiel, meine kindlichen Hände […] – kurz meine ganze rührende und wunderbare Erscheinung entzückte die Herzen. Als ich mit einem vollen und energischen Bogenstrich über alle Saiten geendigt hatte, erfüllte das Geprassel des Beifalls […] die Kuranlagen. […] Man überhäuft mich mit Lobsprüchen, mit Schmeichelnamen, mit Liebkosungen. […] Eine alte russische Fürstin, ganz in veilchenfarbener Seide und mit gewaltigen weißen Ohrlocken, nimmt meinen Kopf zwischen ihre beringten Hände und küsst mich auf die feuchte Stirn. Hierauf nestelt sie leidenschaftlich eine große, funkelnde Diamantbrosche in Leiergestalt von ihrem Halse los und befestigt sie, unaufhörlich französisch redend, an meiner Bluse. […] Man zog mich zur Konditorei.
An drei verschiedenen Tischen bewirtete man mich mit Schokolade und Cremeschnitten. […] Viele Stimmen wurden laut, dass ich mein Spiel wiederholen möchte […] Allein mein Vater erklärte, dass er nur ausnahmsweise seine Erlaubnis gegeben habe und dass ein wiederholtes öffentliches Auftreten sich nicht mit meiner gesellschaftlichen Stellung vertrage.« 68
› Hinweis
Eine Violine, die nicht klingt – in diesem Bild wird das zentrale Motiv des Romans von Thomas Mann beziehungsreich gestaltet: das Phänomen der Hochstapelei, der Vortäuschung falscher Tatsachen also, der Vorspiegelung von in Wahrheit nicht vorhandenen Qualitäten und damit das Phänomen der Eitelkeit. »Der Schatten des Felix Krull«, in dem viele Redner unbewusst stehen, ist der Schatten der Eitelkeit, genauer gesagt: die Befürchtung, von anderen für »eitel« gehalten zu werden und damit – gemäß dem eigenen internalisierten Wertekanon – einer weitreichenden moralischen Verurteilung ausgeliefert zu sein, und zwar, wie der Betreffende selbst findet, legitimerweise!
Wie geht dies vor sich, und wie kann es dazu kommen? Diese Fragen lassen sich in zweierlei Hinsicht beantworten: im Blick auf das Individuum einerseits und bezogen auf unseren kulturellen Hintergrund andererseits. Niemand, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Rednerbühne betritt, kann dies unabhängig vom kulturhistorischen Kontext der vergangenen zweitausend Jahre tun, und über kaum eine andere menschliche Eigenschaft ist während dieser Zeit so gründlich das Verdikt gesprochen worden wie über die Eitelkeit. Das Unbehagen des Redners an der eigenen Rolle stammt nicht zuletzt aus dieser kollektiven Erinnerung, der sich das Individuum nicht entziehen kann, weil sie zu ihm gehört: »Wir finden diese Form von dokumentiertem Erinnern in alten Mythen, in der Geschichtsschreibung, Erzählungen, Sagen, in Büchern wie der Bibel, dem Talmud und dem Koran, aber auch in Regeln und Gesetzen. Dieses kulturelle Gedächtnis ist die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen«, zitiert die Zeitschrift brandeins den deutschen Kulturwissenschaftler und Ägyptologen Jan Assmann. Und der Autor des Beitrages setzt hinzu: »Die entscheidenden Wörter sind ›gehärtet‹ und ›Wiederholung‹.« 69
› Hinweis
Durch eine solche unablässige Wiederholung »gehärtet« wurde der Vorbehalt gegen die Eitelkeit. In dieser Bezeichnung, zuweilen auch als »Hochmut«
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