Das befreite Wort
rühren immer auch an ein Geheimnis. Sie aktualisieren – nach Aristoteles – etwas Potenzielles, etwas, das angelegt, aber noch halb oder ganz verborgen ist. Sie lassen »die Möglichkeiten sichtbar werden, die einer Sache innewohnen«, und das heißt immer auch: die den Zuhörern innewohnen.
Über ein einfaches »Nach-dem-Munde-Reden« geht diese rhetorische Leistung schon deshalb weit hinaus, weil sie vom Redner zum Ersten eines verlangt: rhetorischen Mut, und das heißt: die Bereitschaft zum rhetorischen Risiko. Denn was passiert, wenn sich die Übereinstimmung zwischen Redner und Publikum nicht herstellt, wenn sich Intuition oder rationale Analyse der Publikumsseele während und nach der Rede als falsch oder als nur teilweise zutreffend erweisen? Was wäre gewesen, wenn niemand am Lincoln Memorial den Traum des schwarzen Predigers geteilt hätte, wenn vor dem Schöneberger Rathaus der US-amerikanische Beistand nicht nur in Worten, sondern auch in Taten gewünscht gewesen wäre? Die schön formulierten Kernsätze dieser und anderer großer Reden wären ins Leere gelaufen, und: Sie hätten bei allen Beteiligten nicht ein Gefühl der Ergriffenheit, sondern eher des peinlichen Berührtseins hinterlassen.
Vor allem der Redner sähe sich in einem solchen Falle dieser Peinlichkeit ausgesetzt, und wahrscheinlich liegt es hauptsächlich daran, dass die meisten zeitgenössischen Redner sich präventiv jedweder »pathetischen« Einlassung enthalten. Die Angst vor dem Pathos bestimmt deshalb im politischen, im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich die Realität des öffentlichen Redens – und das ist mindestens ermüdend, de facto sogar schädlich: für die Redekultur ohnehin, aber auch für das Ansehen von Personen und Institutionen, was sich wiederum negativ auf ganze Sachgebiete auswirkt, die ohne Begeisterung und Begeisterungsfähigkeit, ohne die Leidenschaft derer, die sie vertreten, nahezu unaufhaltsam austrocknen.
Nicht umsonst benannte Aristoteles drei Dimensionen rhetorischer Wirksamkeit: Ethos, Pathos und Logos. Und keine dieser drei Kategorien, so der Philosoph, ist im Blick auf rhetorische Wirkung verzichtbar: »Von den durch die Rede geschaffenen Überzeugungsmitteln gibt es drei Arten: Sie sind zum einen im Charakter des Redners angelegt (Ethos), zum anderen in der Absicht, den Zuhörer in eine bestimmte Gefühlslage zu versetzen (Pathos), zuletzt in der Rede selbst, indem man etwas nachweist (Logos) oder zumindest den Anschein erweckt, etwas nachzuweisen.« 57
› Hinweis
Nicht selten wird die Rede-, noch häufiger die Vortragskunst heute – besonders, aber nicht nur in Deutschland – auf den Logos alleine reduziert: »Ich will durch Informationen und Fakten überzeugen, nicht durch Rhetorik«, heißt es dann. Die dadurch postulierte Dichotomie von »Inhalt hier und Rhetorik dort« entbehrt zwar der historischen ebenso wie der sachlichen Grundlage, erfreut sich aber dennoch andauernder Beliebtheit.
Was aber sollte denn sonst den spezifischen Charakter des Mediums »Rede« ausmachen, wenn nicht die Verbindung des Inhaltes (Logos) mit der emotionalen Wirkung auf das Publikum (Pathos) und vor allem: mit der Persönlichkeit des Redners, seinem Standpunkt und seiner Wertewelt (Ethos)? Denn das ist es, was die rhetorische Wirkungsabsicht dem Redner zum Zweiten abverlangt: einen eigenen Standpunkt, eine innere Haltung. Und auch diesen Grundsatz findet man schon bei Aristoteles: »Nicht trifft zu, wie manche Fachtheoretiker behaupten, dass in der Redekunst auch die Integrität des Redners zur Überzeugungsfähigkeit nichts beitrage, sondern fast die bedeutendste Überzeugungskraft hat sozusagen der Charakter.« 58
› Hinweis
»Habe die Haltung, und die Worte werden folgen« – so müsste eigentlich auch der berühmte rhetorische Lehrsatz des Cato (»rem tene verba sequentur« – »Erfasse die Sache, und die Worte werden folgen«) gelesen werden. Denn: Auch die Klarheit in der Sache resultiert letztlich aus der Klarheit der inneren Haltung. Damit aber ist es in der rednerischen Praxis und überhaupt im professionellen Alltag meist eher schlecht bestellt. Auf den ersten (und oft auch zweiten) Blick werden »Ecken und Kanten«, wohlbegründete Grenzen der Kompromissfähigkeit und klar konturierte Positionen wenig geschätzt. Im Kulturbetrieb, im politischen Raum, vor allem aber in der Wirtschaft führt der Weg in Führungspositionen – so scheint es wenigstens – über andere Tugenden. Sie
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