Das befreite Wort
Fehleinschätzungen führt: die Ausblendung historischer Kontexte?
Denn natürlich bewerten wir den Blick Hitlers auf die Adressaten seiner Rhetorik, auf die Menschen überhaupt, als »menschenverachtend« – ebenso übrigens wie die Einstellung Stalins oder die Haltung der Inquisition im Mittelalter. Aber, so schreibt Kegel richtig: »Texte, insbesondere historisch bedeutende, sind unbedingt pragmatisch, also unter Beachtung des historischen Kontextes und des jeweiligen Skripts, zu analysieren. Nicht die Intentionen und Wissensbestände des Analysierenden, sondern diejenigen der Kommunikationsteilnehmer sind Ausgangspunkt der Untersuchung. Wissen, welches der Redner und die Zuhörer zum Zeitpunkt der Rede nicht besessen haben können, ist bei der Interpretation der Handlung historischer Personen möglichst auszublenden (was allerdings nicht einfach ist).« 52
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In Bezug auf den Fall Hitler heißt dies: »Er [Hitler] wollte das deutsche Volk befreien […]« 53
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Sich selbst betrachtete Hitler dabei als göttliches Werkzeug, er sah sich in der Rolle eines Messias’, der mit einer Befreiungsmission beauftragt war. 54
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Mit dieser wahnhaft übersteigerten Größenphantasie, die für ihn jedoch ein Höchstmaß von Realität besaß, wurde natürlich ein extremes Hierarchiegefälle zwischen dem gottähnlichen Verkünder und der »zu führenden Gemeinde« installiert. Aus diesem Gefälle resultiert aber – im oben skizzierten Sinne historiografischer Analyse – nicht zwangsläufig Verachtung.
Im Gegenteil: Die Anerkennung der eigenen Mission durch die Menge, ihre Gefolgschaft, konstituiert erst die Führerschaft. Die Nähe zur Menge wird daher sehnsüchtig gesucht, und in den Reden wird die Gefolgschaft auf eine Weise beschworen, die ein nahezu erotisches Verhältnis inszeniert – wenn auch immer als Konstellation von Dominanz und Unterwerfung, nicht als gleichberechtigte Beziehung »auf Augenhöhe«. Aber auch sadomasochistische Liebesbeziehungen sind Liebesbeziehungen – und im Verhältnis von diktatorischen Herrschern zu ihren Untertanen findet man sie nicht eben selten.
In diesem Sinne lässt sich auch der außerordentliche rhetorische Erfolg Hitlers erklären. Und es zeigt sich, dass im Hinblick auf die emotionale Einstellung des Redners zu seiner Hörerschaft nicht die Alternative »Achtung oder Verachtung« maßgebend ist; entscheidend ist vielmehr,
ob der Redner ein Ziel verfolgt, von dem er annehmen kann,
dass es für seine Zuhörer erstrebenswert ist (eine glaubwürdige Vision/Mission)
ob die Zuhörer sich in dieser Zielsetzung wiederfinden
ob es gelingt, zwischen Sender und Empfänger eine gemeinsame Überzeugung bezüglich der Erreichbarkeit dieses Zieles und der Besonderheiten des Weges dorthin zu etablieren.
Noch einmal, auch wenn es für uns heute schwer vorstellbar ist: Nicht unter allen historischen, kulturellen und sozialen Umständen muss dieser Weg von einem Verhältnis gleichberechtigter Partnerschaft geprägt sein, um von Sender und Empfänger als »gemeinsamer« Weg empfunden zu werden. Hitlers messianischer Führungs- und Unterwerfungsanspruch etwa fand in großen Teilen der deutschen Bevölkerung seine Entsprechung, eine große Bereitwilligkeit, sich zu unterwerfen und führen zu lassen. Gemeinsam führten »Führer« und »Volk« über lange Zeit eine ekstatische und beiderseitig in hohem Maße befriedigende Beziehung – mit den bekannten verhängnisvollen Folgen. »Weder psychologischer Spürsinn noch die Rationalität seiner Kundgebungsstrategie hätten ihm [Hitler] eine so große Verzauberungsmacht verschafft, wenn er die geheimsten Regungen der Masse nicht geteilt und ihre Gestörtheiten auf eine exemplarische Weise in sich vereint hätte. Vor seiner Rednertribüne begegnete, feierte und vergötzte sie sich selbst, es war ein Austausch der Pathologien, die Vereinigung von individuellen und kollektiven Krisenkomplexen in rauschhaften Verdrängungsfesten«, schreibt Hitler-Biograf Fest. 55
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Hat also Platon doch recht und das rhetorische Handwerk läuft auf eine »Schmeichelei« hinaus, bei der die Redner dem zumeist unkundigen Publikum nach dem Munde reden ? 56
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Nein, denn nicht das schafft Begeisterung, was schon ausgesprochen ist und vom Redner nachgesprochen wird, sondern das, was gewünscht, ersehnt, erhofft, aber noch nicht (oder nicht klar genug) gesagt ist. Man könnte es so formulieren: Wirkungsvolle Reden
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