Das befreite Wort
ist bei genauerem Hinsehen diesem Gefühl zuzuordnen. 74
› Hinweis
Kaum ein anderes Gefühl wird als so unangenehm und belastend erlebt (wie etwa die sprachlichen Wendungen »brennende« oder »nagende« Scham verdeutlichen) und deshalb mit einer ähnlich großen Vehemenz abgewehrt. Kaum ein Redner, den man im Rahmen etwa einer professionellen Beratung mit der Frage konfrontiert, ob er in seinen Auftritten möglicherweise von Schamgefühlen geplagt werde, wird diese Frage positiv beantworten. Aufmerksame Beobachter von Rednern, Moderatoren oder anderen, die sich in einem beruflichen Kontext selbst präsentieren, spüren die Scham jedoch fast immer: Im Effekt des »Fremdschämens«, bei dem sich der Betrachter sozusagen stellvertretend für den Menschen auf der Bühne schämt, »spiegelt« sich das eigentlich dem Vortragenden oder sich auf andere Weise Präsentierenden zugehörige Gefühl und wird so manifest.
Ein gutes Beispiel dafür, bei dem das untergründige emotionale Geschehen selbst noch in der medialen Vermittlung durch die Videoaufzeichnung spürbar bleibt, ist die bereits erwähnte Rede des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post AG, Klaus Zumwinkel, bei der Pressekonferenz in London 75
› Hinweis
.
Siehe auch im Blog zum Buch unter:
http://www.nicolai-verlag.de/das-befreite-wort-blog/?p=140
Wer den Ausschnitt auf sich wirken lässt und dabei die eigenen Gefühlsregungen beobachtet, kann sehr wahrscheinlich auch ein Gefühl der Scham wahrnehmen. Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil resultiert sie in diesem Beispiel zweifellos auch aus der fehlenden Gewandtheit in der englischen Sprache, die zu benutzen sich der Vorstandsvorsitzende Zumwinkel in diesem Zusammenhang offenbar verpflichtet sah. 76
› Hinweis
Ganz sicher aber hat das beschämende Auftreten 77
› Hinweis
auch andere Gründe. Denn was – so mag sich der Betrachter fragen – hat den Chef der Deutschen Post eigentlich daran gehindert, seinen Erfolg in der Sache auf eine diesem Erfolg angemessene Art und Weise der versammelten europäischen und außereuropäischen Wirtschaftspresse zu präsentieren? »Den Funken, den Du bei anderen entzünden willst, musst Du selbst im Herzen tragen« – so lautet eine dem Augustinus zugeschriebene Grundwahrheit aller Rhetorik. Doch so recht er damit bis heute hat; die Zumwinkel-Pressekonferenz und viele, sehr viele andere vergleichbare Auftritte zeigen: Der Funke allein reicht offenbar nicht. Denn es kann kaum ein Zweifel daran bestehen,
dass Klaus Zumwinkel an diesem Tag einen großen persönlichen Erfolg zu verkünden hatte
dass er von einem »Quantensprung«, einer objektiven Zäsur in der Geschichte der Deutschen Post zu berichten und insofern wirklich einen »historischen Moment« zu gestalten hatte
dass die Zahlen und Fakten all dies untermauerten
dass seine Aussagen also belegbar und »richtig« waren
dass die Fusion mit Exel objektiv ein beachtlicher Erfolg und der neue gemeinsame Konzern mit 55 Milliarden Euro Umsatz und 500.000 Mitarbeitern im weltweiten Maßstab ein Schwergewicht unter den Dienstleistungsunternehmen sein würde
All das wird auch den Vorstandsvorsitzenden mit Stolz erfüllt haben. Im Sinne des Augustinus wird man davon ausgehen dürfen, dass er selbst durchaus in seinem Herzen den Funken trug, mit dem er bei Gelegenheit dieser Pressekonferenz auch bei den anwesenden Journalisten die Begeisterung hätte entzünden können.
Ganz offenbar hat ihn aber eine stark wirkende Kraft davon zurückgehalten, und vieles spricht dafür, dass diese Kraft eben das Gefühl der Scham war: Scham über genau jenen Stolz, den er empfunden haben mag, weil dieser Stolz ihm »verdächtig« vorkam. Würde man es ihm denn nicht als Eitelkeit und Selbstdarstellerei auslegen, wenn er seine Freude, die fraglos der Situation angemessen war, auch sichtbar zum Ausdruck gebracht hätte? Würde man es denn nicht als Hoffart und Anmaßung verstehen, wenn er die Analogie, die sein Redenschreiber ihm (mit Blick auf verwendbare griffige Zitate und Überschriften für die Presse) ins Manuskript geschrieben hatte – den Vergleich der Fusion mit dem ersten bemannten Mondflug –, tatsächlich mit Überzeugung statt mit ironischer Distanz und einer geradezu verächtlichen Herablassung vorgetragen hätte?
Klaus Zumwinkel schien davon überzeugt gewesen zu sein, dass man ihm all dies genauso auslegen würde. Vor seinem inneren Spiegel zeigte sich das abschreckende Bild eines Hochstaplers wie
Weitere Kostenlose Bücher