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Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sprong
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oder »Stolz« benannt, führt sie bis heute die »Hitliste« der sogenannten sieben Todsünden an. 70
› Hinweis
    Diese Tradition ist für die Rhetorik höchst bedeutsam. Denn seit dem Ende der klassischen Antike und mit dem Beginn der christlichen Vorherrschaft im Abendland wird nahezu jede Form künstlerischer Darstellung mit dem Hinweis auf die darin angeblich zum Ausdruck kommende Eitelkeit verurteilt. »Alles ist eitel« – dieser Satz aus der Bibel 71
› Hinweis
, dem der Barockdichter Andreas Gryphius eines seiner berühmtesten Sonette 72
› Hinweis
widmen sollte, verwendet das Wort »eitel« in seiner ursprünglichen Bedeutung von »vergänglich«, »dem Untergang geweiht«. Es meint also das nicht Dauerhafte im Gegensatz zum »Wahren« und »Ewigen«. Als Letzteres aber galt im gesamten europäischen Mittelalter – und eben auch darüber hinaus – nur das »Göttliche«, wobei die Kirche für sich beanspruchte, nur sie allein habe das Recht, dieses »Göttliche« zu definieren und zu verkünden. Alles andere galt aus dieser Perspektive als bloßer Schein – auch und gerade die sogenannte Wirklichkeit ist in dieser Auffassung nur ein Abglanz Gottes, jedes materielle und natürliche Ding, erst recht aber jedes »Bild vom Ding«, jedes »Abbild vom Bild«.
    In den Künsten ist deshalb außer der Darstellung christlicher Wahrheiten eine Abbildung der natürlich-materiellen Welt nur dann erlaubt bzw. sinnvoll, wenn sie die Scheinhaftigkeit der Wirklichkeit in ihren Bildern thematisiert und den Betrachter so daran erinnert, dass all das, was er auf dem Bild sieht, ebenso wie er selbst, der dieses Bild betrachtet, vergänglich und endlich ist. Selbst die Musik, der verklingende Ton wurde in diesem Sinne als ein Memento mori betrachtet: Der Klang macht, indem er verklingt, die Endlichkeit allen Seins sinnlich erfahrbar.
    Jede Darstellung und Selbstäußerung, jede Form von Präsentation (mit der Ausnahme der Verkündigung der »wahren« heiligen Schrift) gilt in dieser Lesart als »Eitelkeit« und damit als Sünde. Am Rathaus von Nördlingen beispielsweise ist eine Steinmetzarbeit zu sehen, die in Augenhöhe des Betrachters angebracht ist und etwa die Größe eines Gesichtsspiegels hat. Zu sehen ist das Antlitz eines Narren nebst Narrenkappe. Und unter dem Gesicht ist zu lesen: »Nün sind ünser Zwey« 73
› Hinweis
 – »Jetzt sind wir schon zu zweit«. Der Narr, der als Künstler sich selbst und die Schwächen anderer darstellt, steht als solcher bereits außerhalb der göttlichen Ordnung der »wahren« Dinge. Wer seinem Spiel jedoch zusieht, sich darin spiegelnd selbst erblickt, der ist erst recht ein Narr, weil er sich an der Vorspiegelung »eitler« Tatsachen ergötzt und so ein gewissermaßen potenziertes eitles Spiel treibt.
    Zwar haben zunächst die Renaissance und dann die Aufklärung diesen Begriff von »Eitelkeit« einer gründlichen Revision unterzogen, indem sie – wie schon Aristoteles – den Primat des Metaphysischen ablehnten und das Wesen der Dinge in die Dinge selbst verlegten. Dennoch scheint sich die jahrhundertelange »Härtung« und »Wiederholung« der Gleichung »Darstellung = Eitelkeit = Sünde = Verdammnis« als Unterströmung bis in die Seelen des sogenannten modernen Menschen fortgepflanzt zu haben.
    Zu einem guten Teil – so scheint es – ist die Angst vor dem Auftritt, das Phänomen des Lampenfiebers, auch heute noch als ein Nachhall mittelalterlicher Bestrafungsangst zu verstehen. Als »Selbstdarsteller« zu gelten, gar als »Aufschneider«, »Blender« oder »Hochstapler«, ist die am häufigsten geäußerte (und noch öfter im Geheimen gehegte) Befürchtung von Rednerinnen und Rednern, bevor sie die Rednerbühne besteigen. So sehr sie den Applaus der internationalen Kurgesellschaft – und durchaus auch deren materielle Entlohnung für die Unterhaltungsdarbietung – begehren, so sehr fürchten sie doch eben jener junge Felix Krull zu sein, der, durch und durch »eitel«, die Musik auf seinem mit Vaseline behandelten Bogen nur vortäuscht.
    Das emotionale Resultat dieser unbewusst als Versündigung erlebten Selbstdarstellung ist die Angst vor »Entdeckung«, die Angst »gesehen« und schließlich auch bestraft zu werden, mit anderen Worten: Scham und Schamangst. Mindestens die Hälfte dessen, was unter den Begriffen des Lampenfiebers, der Auftrittsangst oder ähnlicher verschleiernder Bezeichnungen subsumiert und in der Ratgeberliteratur besprochen wird,

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