Das befreite Wort
Drang seines Herzens zu jener bedürftigen Menge hat ihn zu seinen Künsten geschickt gemacht; und wenn er ihr Lebensfreude spendet, sie ihn dafür mit Beifall sättigt, ist es nicht ein wechselseitiges Sich-Genüge-Tun, eine hochzeitliche Begegnung seiner und ihrer Begierden?« 87
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Der Romanheld Felix Krull wird wenige Jahre nach diesem Theaterbesuch seine beachtliche Hochstaplerkarriere beginnen – heute würde man vielleicht sagen: seine Selbstvermarktung. Er ist deshalb geneigt (und fähig!), seinen ersten Befund infrage zu stellen und selbstkritisch die Leistung Müller-Rosés im Horizont allgemeiner philosophischer Betrachtung zu würdigen. Andere würden bei einem solchen Besuch »hinter den Kulissen« ihre ärgsten Befürchtungen bestätigt finden: »In Wahrheit«, hinter Maske und Kostüm, ist der Schauspieler nicht nur leer oder stumm, wie es die mit Vaseline behandelte Violine im Kurpark war, sondern er ist sogar abstoßend und erregt Ekel. Seine Blendung des Publikums ist nicht nur eine kleine Schelmerei. Sie ist ein Betrug, eine eitle und höchst unmoralische Angelegenheit. Kein auf Gelderwerb, Leistung, Karriere und Ansehen ausgerichteter bürgerlicher Charakter kann es sich wünschen oder auch nur zulassen, dass man diese Art von Kunst von ihm verlangt: »Ich bin doch kein Schauspieler. Ich bin ich.« bedeutet: Ich gehöre nicht zu jenen, die ihr wahres Wesen hinter einer Maske verbergen und andere täuschen. Ich bin kein Betrüger, sondern ehrlich und »echt«.
Dahinter aber lauert die Angst, denn das »wirkliche Selbst«, auf dessen Präsentation man hier vorderhand doch so trotzig besteht, ist in dieser Perspektive freilich auch das, was der Roman die »Wurmgestalt« des Glühwürmchens nennt, das »eklige Weichtierchen«. Das ist der Preis für das Festhalten am Gegensatz von Sein und Schein: Wer darauf beharren und vertrauen will, dass er nicht leuchten und glänzen muss wie der erfolgreiche Schauspieler (weil dies dann ein Betrug sei), müsste zugleich davon ausgehen, dass diese seine innere Substanz ohne jede Beeinträchtigung, ohne Schatten und ohne jede »unansehnliche« Stelle, also vollkommen präsentabel sei. Kein gesunder Mensch aber tut das. Stattdessen lebt wohl jeder »im geheimen Bewusstsein und Gefühl« seiner persönlichen Makel – und möchte dennoch »gefallen«. Wer Schauspiel, Maske und Kostüm für sich radikal ablehnt, manövriert sich deshalb zumindest gedanklich in die Situation einer rückhaltlosen »Exhibition« – und ängstigt sich damit selbst: »Wenn wir in unseren Unterhosen dort oben stünden, mochten sie denken – wie würden wir bestehen?« 88
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Auf diese Weise geht, wer blind dem Ruf nach »Authentizität« folgt, in die selbst gestellte Falle der Scham. Denn im Kern steckt dahinter der Wunsch: Jemand sollte endlich einmal mich anschauen und mich so akzeptieren, wie ich bin – einschließlich meiner unattraktiven Seiten, einschließlich meiner Defizite und Schwächen. 89
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Oder wie es im Roman heißt: »[…] wie der Mensch sich nicht satt hören kann an der Versicherung, dass er gefallen, dass er wahrhaftig über die Maßen gefallen hat!« Das aber wird – so die gleichzeitige Befürchtung – dem »nackten, authentischen Ich« nicht vergönnt sein. Es wird ihm vielmehr ergehen, wie es ihm immer ergangen ist: »Mein wirkliches Selbst (so, wie ich es erlebe), passt nie zu dem, was sie erwarten, noch passen sie je zu dem, was ich erwarte. [Hervorhebungen im Original]« 90
› Hinweis
Um aus dieser inneren Zwickmühle hinauszufinden, scheint für Redner nun zum einen besonders jene Erkenntnis wichtig zu sein, die der Romanheld Felix Krull so klar ausspricht: dass nämlich zur Verführung immer zwei gehören und dass es sich dabei stets um »ein wechselseitiges Sich-Genüge-Tun, eine hochzeitliche Begegnung« zweier Begierden handelt. Diese Einsicht vor allem ist es, die den moralischen Einwand gegen den Schauspieler, nämlich den Vorwurf, er betrüge sein Publikum, zu Fall bringt: »Die erwachsenen und im üblichen Maße lebenskundigen Leute aber, die sich so willig, ja gierig von ihm [Müller-Rosé] betören ließen, mussten sie nicht wissen, dass sie betrogen wurden? Oder achteten sie […] den Betrug nicht für Betrug?« Diese rhetorische Frage wurde wenige Zeilen vorher schon beantwortet; zugleich wird dort erklärt, worauf der Erfolg jeder sogenannten »Verführung« oder »Manipulation« beruht und wie
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