Das Begräbnis des Monsieur Bouvet
Trauermiene. Als sie an dem Wachtposten vorbeikamen, setzte er seine Unterschrift ins Meldebuch, dann blinzelte er, weil die Sonne ihn blendete.
Monsieur Beaupère wollte nicht durch den Keller gehen. Er nahm lieber den Weg außen um den Justizpalast herum, aber die frische Luft bekam dem alten Clochard auch nicht besser. Er gab sich dennoch alle Mühe und versuchte, so gut es ging, dem Inspektor zu folgen. Man sah auf den ersten Blick, daß ihm schwindlig war und er nicht ganz sicher auf den Beinen stand.
»Hunger?«
Der Alte traute sich nicht, nein zu sagen und dem Inspektor zu erklären, daß in dem Stadium, bei dem er angelangt war, das Essen nicht mehr wichtig war. Der Inspektor schien dennoch verstanden zu haben, denn anstatt sofort den Weg zum Quai des Orfèvres einzuschlagen, führte er seinen Gefährten erst einmal in eine kleine Bar an der Place Dauphine.
»Rotwein?«
Von dieser Großzügigkeit war der Mann nicht mehr überrascht als von der Tatsache, daß er in Polizeigewahrsam aufgewacht war. So war das Leben eben. Mal geriet man an einen so wie den hier, mal an einen härteren Typ, der einem ein paar Tritte in den A … gab.
Ohne daß man ihm etwas zu erklären brauchte, fragte der Wirt augenzwinkernd:
»Einen Liter?«
Ein schwerer tiefroter Wein wurde aufgetragen, von dem der Alte erst einmal einen tüchtigen Schluck nahm. Worauf er die Flasche wieder zukorkte und sie mit geübter Geste in eine seiner ausgebeulten Taschen steckte.
Er erwachte zusehends zu neuem Leben, wie eine Pflanze, der man Wasser gibt. Sein Gang blieb zögernd, aber der war wohl immer so, und als es auf der Treppe hochging zur Kriminalpolizei, mußte er ein paarmal stehenbleiben und sich verschnaufen.
Wenn ihn jemand besuchte oder er jemanden verhörte, war es für Monsieur Beaupère jedesmal ein Problem, ein leeres Büro zu finden. Auch nach dreißigjähriger Dienstzeit hatte er nie ein eigenes Büro bekommen. Auf gut Glück klopfte er an einige Türen, fragte aber nicht weiter, wenn er ein ablehnendes Murren vernahm.
An diesem Tag hatte er nicht allzuviel Mühe, einen Raum zu finden, denn mehr als die Hälfte der Beamten war im Urlaub.
»Setzen Sie sich.«
Er duzte den Alten nicht, wie die anderen es getan hätten, er tat auch nicht wichtig oder geheimnisvoll. Er zog sein dickes Notizbuch aus der Tasche wie ein Vertreter, der gerade eine Bestellung aufnehmen will.
»Darf ich?« fragte der Professor und deutete auf die Flasche in seiner Tasche.
Nachdem er getrunken hatte, schien er den letzten Rest nächtlicher Verworrenheit in einem Seufzer auszuhauchen.
»Ihr Name?«
»Man nennt mich ›Professor‹.«
»Haben Sie einen Ausweis?«
Er zog ihn hervor, aber nicht etwa aus einer seiner Taschen, sondern aus seinem Hut, einen schmierigen, zerfledderten Ausweis, auf dem man gerade noch den Namen entziffern konnte: Félix Legalle.
Als Beruf war Lumpensammler angegeben, zweifellos weil er einen Teil seiner Nächte damit verbrachte, in Mülltonnen zu wühlen. Auch wenn man es kaum für möglich hielt, war er doch noch keine Fünfundsechzig.
»Kannten Sie René Bouvet?«
Der Alte betrachtete ihn mit verkniffener Miene; er schien nicht zu verstehen.
»Ich frage Sie, ob Sie einen gewissen René Bouvet gekannt haben.«
»Wer soll denn das sein?«
»Vorgestern abend …«, begann der Inspektor.
Er begriff sogleich, daß diese Worte für den wirren Geist seines Gegenübers, der seit langem aufgehört hatte, in Tagen und Nächten zu rechnen, und nur noch in Litern Rotwein zählte, bloß ein neues Problem darstellten.
»Hören Sie mir überhaupt zu?«
»Ja, Monsieur. Darf ich?«
Diesmal behielt er die Flasche in der Hand, ohne sie wieder zuzukorken.
»Versuchen Sie mir zu folgen. Vorgestern ist der Tag, an dem ein gewisser Monsieur Bouvet am Kai vor den Auslagen eines Bouquinisten gestorben ist.«
Bei diesen Worten reichte er die Zeitung herüber, die das erste Foto von Bouvet veröffentlicht hatte.
»Erkennen Sie ihn wieder?«
»Ja.«
»Warum haben Sie sich am selben Abend vor seinem Haus am Quai de la Tournelle aufgehalten?«
»Ich mochte ihn.«
»Waren Sie mit ihm befreundet?«
Bei jeder Frage runzelte der Clochard die Stirn, als fürchte er, den Sinn der Worte nicht richtig zu verstehen. Diese erreichten sein Gehirn offenbar nur durch eine Art Nebel, der sie zu entstellen drohte.
»Wußten Sie, daß er Bouvet hieß?«
»Nein.«
»Wußten Sie, wie er hieß?«
»Nein.«
»Wußten Sie, daß er noch anders
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