Das Begräbnis des Monsieur Bouvet
Windeln gelegen hatte.
Dies war sehr viel delikater, als es zuerst aussah. Er betrachtete die Straßen um sich herum plötzlich mit ganz anderen Augen und stellte sich die Passanten anders angezogen vor, so wie es um 1900 oder noch früher Mode gewesen war, die Einspänner, die Busse, die Gaslaternen.
Mit seinen zweiundfünfzig Jahren fühlte sich Monsieur Beaupère jedoch noch keineswegs alt. Manchmal, wenn er sich seinen Träumen überließ, kam er sich ganz tief in seinem Innern sogar noch wie ein Kind vor.
Ob es den anderen ebenso erging?
Hatte sich auch Monsieur Bouvet ab und zu noch wie ein kleiner Junge gefühlt?
Es war ziemlich verworren. Er würde hierüber noch einmal nachdenken, wenn er mehr Zeit hatte. Jetzt aber mußte er zuerst das alte Fräulein mit dem Veilchenstrauß finden. Es war unglaublich, wieviel alleinstehende und meist in bescheidenen Verhältnissen lebende alte Frauen er in dem Viertel entdeckte. Fast jedes Haus besaß eine, so wie es eine Concierge hatte. Viele hatten einen Spitznamen. Von den einen sprach man mit einem nachsichtigen Lächeln und ließ durchblicken, sie seien nicht mehr ganz richtig im Kopf. Von den anderen sprach man voller Mitgefühl, wohl wegen ihrer Gebrechen.
Manche waren schwerbehindert und konnten ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Es gab aber auch andere im gleichen Alter, die jüngeren Leuten noch den Haushalt machten oder Kinder hüteten.
Andere wiederum saßen in den Anlagen auf den Bänken. Sie ließen sich von der Sonne wärmen und sahen aus, als dächten sie an nichts.
»Entschuldigen Sie, kennen Sie zufällig ein altes Fräulein …«
Er würde sie finden, er war sich dessen ganz sicher. Vorausgesetzt natürlich, sie nahmen ihm den Fall nicht weg.
Die noch feuchten Fotos lagen auf dem Schreibtisch des Direktors nebeneinander, und Madame Lair betrachtete sie. Dabei irgendein Gefühl zu zeigen, das sie nicht empfand, hielt sie für unnötig.
»Versetzen Sie sich in meine Lage. Als ich ihn zum letztenmal sah, war er dreiundzwanzig und ich achtzehn. Trotzdem überrascht es mich, wenn ich sehe, wie wenig sich ein Mensch im Laufe seines Lebens verändert. Auf diesem Foto hier zum Beispiel ist es, als sähe ich ihn wieder lebendig vor mir. Ohne die Narbe wäre ich allerdings doch nicht ganz so sicher.«
Der Direktor zeigte ihr eine Vergrößerung des nackten Beins, auf der die Narbe deutlich sichtbar war.
»Mit vierzehn fiel er vom Baum, als er mit seinen Freunden spielte. Dabei fiel er mit dem rechten Bein auf einen Baumstumpf. Die Wunde sah sehr böse aus. Ich kann mich erinnern, daß er fast zwei Monate im Bett liegen mußte. Ich glaube, das Schienbein war gebrochen. Jedenfalls hat er mir das erzählt. Ob man das noch feststellen kann?«
»Wahrscheinlich. Ich werde das Nötige veranlassen.«
»Entschuldigen Sie, daß ich Anwalt Guichard gebeten habe, mich hierher zu begleiten, aber er ist vor allem als Freund hier. Ich dachte, da sind sicher irgendwelche Formalitäten zu erledigen, und ich verstehe davon nicht viel.«
Auch der Direktor war in den Fünfzigern. Er war sogar noch etwas jünger als Monsieur Beaupère.
»Würden Sie wohl so freundlich sein, etwas von Ihrer Familie zu erzählen? Das könnte uns eventuell helfen.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Alles, was Sie mir erzählen.«
»Von meinem Vater, der die Lamblot-Spinnereien gegründet hat, haben Sie sicher schon gehört.«
Es tat ihr fast leid, daß sie ihr Fotoalbum nicht mitgebracht hatte und Désiré Lamblot nicht vorführen konnte, wie er dastand in seinem bis zum Hals zugeknöpften Gehrock und mit seinem breiten Gesicht, das ein Backenbart noch breiter erscheinen ließ.
»Er hatte nur zwei Kinder, meinen Bruder und mich. Er war streng, wie alle Männer damals waren, zumindest in den Familien der Großindustriellen von Roubaix.«
»Sein Sohn sollte doch sicher sein Nachfolger werden, oder?«
»Eine andere Laufbahn kam gar nicht in Frage. Und ich glaube, in Roubaix, Tourcoing und Lille ist es heute immer noch so, wenigstens bei den Wollfabrikanten.«
»Haben Sie Söhne, Madame Lair?«
»Nur Töchter, leider. Die Spinnereien werden von einem meiner Schwiegersöhne geleitet.«
»Und was wissen Sie von Ihrem Bruder?«
»Was man normalerweise von seinem großen Bruder weiß, so gut wie gar nichts. Er imponierte mir, vor allem, weil er älter war als ich, weil ich ihn hübsch fand und ihn für gescheiter hielt als alle anderen. Außerdem stand ich innerlich auf seiner Seite gegen
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