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Das Begräbnis des Monsieur Bouvet

Das Begräbnis des Monsieur Bouvet

Titel: Das Begräbnis des Monsieur Bouvet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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das?«
    »Er wollte alles und doch nichts Besonderes. Nur eins war sicher: Er dachte nie daran, die Spinnerei zu übernehmen. Von meinem Vater sagte er nur: ›Ein Sklave! Ein Glück nur, daß er es selbst nicht merkt!‹«
    »Wann ging er fort?«
    »Er ging nach Paris, um weiterzustudieren. Mein Vater verlangte, daß er Jura studierte, bevor er eine Lehre in der Spinnerei anfing.«
    »Gab er ihm sehr viel Geld?«
    »Sehr wenig. Zuerst kam Gaston jeden Samstag nach Roubaix, so wie mein Vater es verlangte. Dann kam er seltener, und es gab Auseinandersetzungen.«
    »Hatte sich Ihr Bruder verändert?«
    »Das ist schwer zu sagen. Ich war ein junges Mädchen geworden und hatte einen anderen Freundeskreis, der Gaston nicht interessierte. Er erzählte mir nichts mehr, antwortete kaum noch auf meine Fragen und nannte mich von oben herab ›mein Kleines‹. Manchmal machte er ein finsteres Gesicht, sein Anarchistengesicht, wie ich das nannte; dann wieder war er fast wie ein Kind, und es machte ihm Spaß, uns allerlei Streiche zu spielen.«
    »Seine Beziehung zu seinem Vater?«
    »Darf ich annehmen, daß das, was ich hier erzähle, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist? Ich besitze nämlich noch einen gewissen Familiensinn. Zuletzt nannte Gaston unseren Vater nur noch ›den alten Heuchler‹. Er mußte wohl eine Entdeckung gemacht haben, von der er nicht sprach, höchstens andeutungsweise. Ich vermute, es gab im Leben meines Vaters ein Geheimnis, wahrscheinlich ein Liebesabenteuer. Bei uns erzählte man später, er habe in Lille ein Verhältnis mit einer ziemlich bekannten Frau gehabt.
    Jedenfalls wagte es mein Vater nicht mehr, so schroff und hochfahrend zu sein, und es kam vor, daß er vor seinem Sohn die Augen niederschlug.
    Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen diese Belanglosigkeiten erzähle. Die ganze Zeit damals war wenig erfreulich. Vermutlich kommt so etwas in den meisten Familien vor. Man könnte meinen, alles Schöne im Leben fällt in die Zeit, in der die Kinder klein sind. Wenn sie groß geworden sind, bricht doch alles auseinander.
    Wahrscheinlich sehe ich meine Kinder und Enkel deshalb auch so selten. Junge und Alte sollen hübsch für sich bleiben.
    Mama war krank. Ein Onkel von mir, der auch in der Stadt wohnte, fing an zu trinken, und man sprach von ihm, als sei er das schwarze Schaf der Familie.
    Gaston kam fast nie mehr, und seine Besuche wurden zur Qual. Wir waren zum Schluß fast froh, wenn er wieder abfuhr.
    Und ohne etwas zu sagen, ist er eines Tages für immer fortgegangen.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Er verschwand. Wir bekamen keine Nachricht mehr von ihm. Mein Vater schickte seinen Buchhalter nach Paris, um Erkundigungen einzuziehen, aber der Buchhalter fand keine Spur von Gaston. Seine letzte Adresse war eine Pension in der Rue Monsieur-le-Prince, wo wir erfuhren, daß er mit einem Mädchen zusammengelebt hatte. Ihren Namen habe ich vergessen.«
    »Und das Mädchen?«
    »War ebenfalls verschwunden. Wenn Sie noch Akten aus jener Zeit besitzen, werden Sie vielleicht noch Unterlagen über die Ermittlungen finden, die damals durchgeführt wurden. Auch mein Vater kam dann nach Paris. Wider Erwarten bekam er keinen Wutanfall. Von einem Tag zum anderen, ja fast von einer Stunde zur anderen, war er ganz klein geworden.
    Zuerst dachten wir, Gaston sei mit dem Schiff auf und davon. Also wurde in den Häfen nachgeforscht.
    Von der Universität erfuhren wir, daß er schon seit einem Jahr nicht mehr immatrikuliert war. Sogar zu seinen Freunden hatte er alle Verbindungen abgebrochen.«
    »Sie wissen also nicht, was er in diesem letzten Jahr in Paris tat?«
    »Nein. Ich war verlobt und kümmerte mich mehr um mich selbst als um die anderen. Am deutlichsten erinnere ich mich noch daran, daß unser Vater immer mehr verfiel. Er lebte so weiter wie immer, er folgte streng dem Stundenplan, den er sich ein für alle Male auferlegt hatte, aber er war nur mehr der Schatten seiner selbst. Er tat die gleichen Dinge, sprach die gleichen Worte. Von dem Buchhalter erfuhren wir später, daß er nicht nur in Frankreich, sondern auch im Ausland in den Zeitungen in der Rubrik ›Persönliche Mitteilungen‹ folgende Anzeige aufgegeben hatte:
     
    Gaston L. -Komm zurück. Keine Vorwürfe.
    Jede Freiheit zugesichert. – Désiré.
     
    Wir hatten immer gedacht, meine Mutter, die schon seit langem leidend war, werde als erste sterben. Schon als ich noch gar nicht auf der Welt war, sagte man immer, sie stehe schon mit einem Fuß

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