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Das Begräbnis des Monsieur Bouvet

Das Begräbnis des Monsieur Bouvet

Titel: Das Begräbnis des Monsieur Bouvet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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meinen Vater.«
    »Verstand er sich nicht mit Ihrem Vater?«
    »Die beiden haben sich nie verstanden.«
    »Und Sie?«
    »Ich fand, daß mein Vater zu hart war. Auch zu Hause mußte alles wie am Schnürchen gehen, genauso wie in seiner Fabrik, und noch mit zwölf Jahren durfte ich bei Tisch nicht reden. Kam mein Bruder, auch als er schon siebzehn war, nur eine Minute zu spät zum Essen, blickte ihn mein Vater nur stumm an, und Gaston wußte, was das bedeutete. Er ging auf sein Zimmer und legte sich ins Bett, ohne etwas gegessen zu haben.«
    »Was für eine Schulbildung hatte er?«
    »Er ging auf die höhere Schule. Zuerst war er ein guter Schüler, der beste in der Klasse. Mein Vater verlangte das.«
    »Verlangte das?«
    »Ja, auch ich mußte immer die Erste sein. Gaston gehorchte, wenn ich das so nennen soll, bis er etwa sechzehn war. Dann wurde er plötzlich schlechter in der Schule. Die letzte Klasse mußte er wiederholen, und das Abitur schaffte er nur mit Müh und Not.«
    »Hatte er Freundinnen?«
    »Ja.«
    »Erzählte er Ihnen von seinen Abenteuern?«
    »Ja. Ich war noch ein Kind, aber er erzählte mir alles. Er war lange in ein Mädchen verliebt, das in Lille in der Nähe des Bahnhofs in einer Art Cabaret sang. Als sie wieder nach Paris ging, wollte er unbedingt mitfahren und hatte schon seinen Koffer gepackt.«
    »Und warum ist er dann nicht gefahren?«
    »Meine Mutter kam in sein Zimmer und sah den Koffer. Meinem Vater hat sie nichts erzählt, denn sie hatte vor ihm ebensoviel Angst wie wir, aber Gaston versprach ihr zu bleiben.«
    »War Ihr Bruder unbeherrscht oder jähzornig?«
    »Im Gegenteil. Wenn er mit Papa Streit bekam, weil er ihm schließlich doch Widerworte gab, war er derjenige, der ruhig blieb. Am besten erinnere ich mich an sein Lächeln. Er lächelte nur mit einer Gesichtshälfte, wobei er nur den Mundwinkel leicht verzog. So etwas habe ich nur bei ihm gesehen. Wenn er mich so anlächelte, wurde ich sehr wütend, und dann warf ich ihm vor, er mache sein ›Ohrfeigengesicht‹.«
    »Mochte er Sie?«
    »Ich weiß es nicht. Als kleiner Junge schien er sich selbst genug zu sein. Er kümmerte sich nicht viel um uns und die anderen. Er las viel. Mein Vater warf die Bücher ins Feuer, wenn sie ihm in die Hände fielen. Deshalb versteckte Gaston sie manchmal in meinem Zimmer.«
    »Haben Sie mir vorhin nicht gesagt, daß er Ihnen seine Geheimnisse anvertraute?«
    »Ich sagte, daß er mir von seinen Abenteuern erzählte. In Wirklichkeit unterhielt er sich aber gar nicht mit mir. Ich glaube, er verspürte lediglich das Bedürfnis, mit sich selbst darüber zu reden und herauszufinden, welche Rolle er darin gespielt hatte.«
    Seltsam – seit einer Weile entspannte ein leichtes Lächeln die Gesichter der drei Gesprächspartner. Vielleicht war das Lächeln auf den Gesichtern der beiden Männer nur der Widerschein des Lächelns der alten Dame. Die Fenster standen immer noch offen. Aber die drei waren zeitlich und räumlich weit entfernt von Paris, von diesem Augustnachmittag.
    Sie glaubten, etwas Graues vor sich zu sehen, ein altes wie eine Festung wirkendes Steinhaus, einen Schulhof, schmale Gassen an Winterabenden.
    »Sie sagten eben, er habe eine Rolle gespielt. Was meinen Sie damit?«
    »Vielleicht irre ich mich …«
    Sie sah die beiden Männer leicht verwirrt an.
    »Ich glaube … Vermutlich geht es doch allen so … In einem gewissen Alter glauben wir, einen bestimmten Typus darstellen zu müssen. Als ich noch im Kloster war …«
    Ein Gefühl der Scheu überkam sie, und sie verstummte.
    »Verstehen Sie, was ich sagen will? In den Jahren, die ich mit Gaston verbrachte, habe ich ihn nacheinander verschiedene Rollen spielen sehen. Eine Zeitlang war er sehr elegant und gab sich blasiert-intellektuell.«
    »Wie alt war er da?«
    »Fünfzehn. Ich glaube, dann fing er an, russische Romane zu lesen. Er weigerte sich, seine Fingernägel sauberzumachen, trug seine Haare lang und betrachtete unseren Vater mit haßerfüllten Blicken.«
    »Hatte er Freunde?«
    »Seine Freundschaften dauerten nie lange. Er war auch nie sehr eng mit jemandem befreundet. Meine Mutter bemühte sich, seine Kameraden zu uns nach Hause einzuladen, aber wenn sie fragte, wen sie einladen solle, antwortete er nur: ›Niemanden!‹
    Je nach Gemütsverfassung setzte er dann noch hinzu: ›Das sind doch nur Larven!‹ oder: ›Das sind doch nur Marionetten!‹«
    »Worauf richtete sich sein Ehrgeiz?«
    »Auf alles.«
    »Wie meinen Sie

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