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Das Begräbnis des Monsieur Bouvet

Das Begräbnis des Monsieur Bouvet

Titel: Das Begräbnis des Monsieur Bouvet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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das Wasser gegen die Bordwände der Kähne klatschen ließen.
    »Sind Sie frei, Jussiaume?«
    Der Direktor ging einen Moment hinaus, um dem Inspektor Anweisungen zu geben. Währenddessen betrachtete Madame Lair vom Fenster aus die gegenüberliegenden Kais, wo ihr Bruder gelebt hatte.
    Wie ein kleines Mädchen schien sie sich zu freuen, so als sei dieses Abenteuer eine jener wunderbaren Geschichten, die sie so sehr gemocht hatte damals, als ihr Bruder ihr zum Beispiel erzählt hatte, daß er um drei Uhr morgens nach Hause gekommen und durchs Fenster eingestiegen sei.
    Sie hatte ein friedliches Leben geführt, meist in Roubaix, in immer derselben Umgebung, derselben häuslichen Szenerie, mit all den Sorgen, von denen sie immer gehört hatte. Ihr Ehemann war ein braver Mensch gewesen, mit dem sie nicht unglücklich geworden war. Sie hatte ihre Töchter großgezogen und war Großmutter geworden.
    Wie schnell doch die Zeit vergangen war! So schnell, daß sie sich fragte, ob es wirklich ihre eigenen Enkelinnen waren, die jetzt die Klosterschule besuchten – dieselbe Klosterschule, in der auch sie gewesen war –, und die Älteste dachte schon ans Heiraten.
    Und jetzt fand sie Gaston wieder, als sei dies alles nur ein Traum gewesen, Gaston, der sie alle nicht ernst genommen hatte, der nichts ernst genommen, der sich über alle lustig gemacht hatte und auch diesmal durch das Fenster entwischt war.
    »Inspektor Jussiaume erwartet Sie, Madame. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß Sie nichts entfernen dürfen.«
    »Ich verspreche es Ihnen.«
    Als er ihre Augen sah, erinnerte sie ihn an ein kleines Mädchen, und er konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Der Tote war gar nicht tot, das war das seltsamste. Man hätte meinen können, nicht nur sie, sondern auch alle anderen hätten es von Anfang an gewußt.
    Niemand hatte den Vorfall am Kai tragisch genommen. Monsieur Bouvet war auf dem Gehweg inmitten seiner bunten Bilderbogen ausgerutscht. Der Amerikaner hatte ihn fotografiert, weil das mehr hergab als die Türme von Notre-Dame. Und die Zeitung hatte das Foto veröffentlicht, weil das einmal einer von den Toten war, die die Leser nicht erschrecken oder traurig machen.
    Als Madame Jeanne mit Madame Sardot den Toten gewaschen hatte, hatte sie da nicht zu ihm gesprochen, als sei er lebendig?
    »Ich danke Ihnen, Herr Direktor.«
    Und der Anwalt sagte:
    »Sie sind mir doch nicht böse, wenn ich Sie nicht begleite? Ich möchte mich noch einen Augenblick mit Monsieur Guillaume unterhalten.«
    Gewitter? Kein Gewitter? Der Wind wehte warm, dann wieder kühler. Das Verdeck des Taxis war zurückgeschlagen. Der Inspektor, der etwa vierzig Jahre alt war, traute sich nicht, seine Zigarette anzuzünden.
    »Aber rauchen Sie doch, ich bitte Sie.«
    Sie war gespannt auf die Concierge, die für ihren Bruder gesorgt hatte, und sie war überzeugt, daß sie sich mit ihr sehr gut verstehen würde.

7
    N achdem der Direktor mit dem Anwalt die technische Seite des Falles besprochen hatte und der Anwalt fortgegangen war, rief der Direktor Lucas zu sich.
    »Ich glaube, Ihr Monsieur Bouvet ist identifiziert«, verkündete er ihm. »Wenn ich mich nicht sehr irre, war gerade eben seine Schwester in meinem Büro.«
    Dann, nachdem er dem Inspektor von dem Gespräch Mitteilung gemacht hatte:
    »Wir werden uns mit Roubaix in Verbindung setzen müssen. Es genügt natürlich nicht, daß eine alte Dame bei uns erscheint, auf ein Foto zeigt und uns erklärt: ›Dies ist mein Bruder, den ich seit 1897 nicht mehr gesehen habe; er hatte nämlich auch so eine Narbe am rechten Bein.‹«
    »Sechsundsiebzig Jahre!« seufzte Lucas.
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Nichts. Ich werde gleich die mobile Brigade in Lille anrufen, damit die in Roubaix und Umgebung alle Greise ausfindig macht, die damals vielleicht mit dem kleinen Lamblot Murmeln gespielt haben. Möglicherweise hat die Schule eine Liste der ehemaligen Schüler, das würde schon helfen. Ich meinerseits werde mir mal die Namenslisten der Juristischen Fakultät anschauen und vermutlich irgendeinen alten Rechtsanwalt oder Notar auftreiben, der zur gleichen Zeit studiert hat wie unser Mann. Sein Alter vereinfacht die Dinge alles in allem; wir brauchen nicht bei denen unter fünfundsiebzig Jahren zu suchen, na, sagen wir zweiundsiebzig, und in diesen Gefilden werden die Leute schon seltener.«
    »Das liefert uns aber noch keine Anhaltspunkte darüber, was er zwischen seinem drei- oder vierundzwanzigsten

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