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Das Begräbnis des Monsieur Bouvet

Das Begräbnis des Monsieur Bouvet

Titel: Das Begräbnis des Monsieur Bouvet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Ich wiederhole, deswegen bin ich nicht gekommen. Falls diese junge Frau wirklich die Tochter meines Bruders ist, ist es doch gerecht …«
    »Dafür bin ich zuständig«, warf der Anwalt ein. »Überlassen Sie diese Fragen nur den Juristen. Es wird schon noch kompliziert genug werden.«
    Sie stand auf. Sie hatte es nicht für nötig befunden, Trauerkleidung anzulegen oder ihren Schmuck wegzulassen. Sie hatte auch nicht geweint. Sie hatte kein Wort gesagt, das diese Unterhaltung hätte trüben können, und ihre Stimmung war fast ebenso beschwingt wie die Luft von Paris.
    »Könnte ich … ihn sehen?«
    »Ich weiß nicht, ob er immer noch oben ist.«
    »Hat man ihn denn aus seiner Wohnung weggebracht?«
    Sie schien ärgerlich zu sein, und ihre Stimme klang vorwurfsvoll.
    »Wir waren dazu gezwungen. Vielleicht wissen Sie noch nicht, daß letzte Nacht jemand in seine Wohnung eingebrochen hat?«
    »Wer denn?«
    »Unter uns gesagt, wir haben nicht die geringste Ahnung. Der Einbrecher hat die Zimmer jedenfalls genauestens durchsucht. Er hat auch die Goldstücke in der Matratze entdeckt.«
    »Und sie nicht mitgenommen?«
    »Er scheint gar nichts mitgenommen zu haben, und das ist ziemlich verwirrend. Die Concierge, die Ihrem Bruder in den letzten Jahren den Haushalt geführt hat, ist dreimal verhört worden. Sie weiß oder glaubt zu wissen, was alles in der Wohnung war. Wir haben versucht, ihrem Gedächtnis auf jede nur erdenkliche Art auf die Sprünge zu helfen. Sie kann sich aber nicht erinnern, irgendein Papier, irgendein Schriftstück gesehen zu haben, das irgend jemanden hätte reizen können. Daß keine Papiere da sind, ist übrigens eine der Eigentümlichkeiten des Falles. Wer wir auch sind, wir schleppen doch alle mit zunehmendem Alter einen immer größer werdenden Ballast von Schriftstücken, privaten Papieren, Briefen, Fotos, was weiß ich sonst noch mit uns herum.«
    Warum lächelte sie wieder?
    »Bei diesem sechsundsiebzigjährigen Mann fand sich jedoch nur ein Personalausweis mit einem Namen, der, wie wir jetzt wissen, nicht sein eigener ist.«
    »Er ist schon immer so gewesen. Er fand diesen ganzen Papierkram scheußlich, und was die Fotos betrifft, so bekam er schon beim bloßen Anblick des Familienalbums, das meine Mutter sorgfältig nachführte und das ich jetzt besitze, einen Wutanfall.
    ›Man hebt doch im Schrank keinen Friedhof auf!‹ rief er, als er noch nicht einmal fünfzehn war. ›Tote auf der ersten Seite! Tote auf den folgenden Seiten! Dann Leute, die noch nicht ganz, aber schon beinahe tot sind! Dann welche, die es eines Tages sein werden …‹«
    »Glauben Sie, er hatte Angst vor dem Tod?«
    »Mit fünfzehn, ja. Ich in diesem Alter auch, und manchmal konnte ich nicht einschlafen, wenn ich nur daran dachte; ich hätte alles darum gegeben, wenn ich zu meiner Mutter ins Bett hätte kriechen können, aber mein Vater hatte es verboten.«
    Ob er immer noch Angst hatte, als er am Quai de la Tournelle wohnte? Aber sicher hatte er sie verloren, denn trotz seiner schwachen Gesundheit war er allein geblieben.
    »Hallo! Erkennungsdienst! Ist der Leichnam von René Bouvet noch bei Ihnen? Er ist vor einer Stunde weggebracht worden? Danke, Benoît.«
    Er entschuldigte sich.
    »Wenn Sie ihn sehen wollen, werden Sie leider ins Gerichtsmedizinische Institut gehen müssen. Vielleicht ist es aber doch kein so sehr empfehlenswerter Anblick.«
    »Ich gehe hin«, sagte sie.
    Sie setzte hinzu:
    »Ich darf doch auch seine Wohnung sehen?«
    »Es wird wohl alles versiegelt sein. Wenn Sie wünschen, werde ich einen meiner Beamten bitten, Sie zu begleiten. Möchten Sie heute hingehen?«
    »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
    Sie wandte sich an ihren Anwalt.
    »Sie werden inzwischen sicher noch etwas zu erledigen haben.«
    Sie fragte noch:
    »Ist Mrs. Marsh wirklich so unangenehm?«
    »Wer hat Ihnen das erzählt?«
    »Der Artikel in der Zeitung hörte sich so an.«
    »Sie muß einmal sehr schön gewesen sein«, sagte der Direktor, ohne sich festzulegen. Er machte eine Handbewegung, die alles und nichts bedeuten konnte. »Wollen Sie mit dem Quai de la Tournelle beginnen?«
    »Wenn Sie gestatten.«
    Monsieur Beaupère war nicht da, sonst hätte er Madame Lair wahrscheinlich begleitet. Er war bis zur Rue du Minage vorgedrungen und wollte gerade mit dem Faubourg Saint-Antoine beginnen. Er kümmerte sich nicht um das heraufziehende Gewitter und die plötzlichen Windstöße, die den Straßenstaub aufwirbelten und auf der Seine

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