Das Beil von Wandsbek
Früchte seiner Siege gebracht und ungeheure Blutopfer gekostet, die ein bescheidener Stratege vermieden hätte. Was alles konnte passieren, wenn man einem Nichtmilitär die hemmungslose Verfügung über alle Kräfte und Menschen unseres Volkes überließ?
Und da geschah etwas Sonderbares. Herr Lintze zog aus der Innentasche seines Waffenrockes eine Anzahl Photographien – Ansichtskarten, wie er sagte, von Adolf Hitlers Hofphotographen aufgenommen und überall für eine Mark zwanzig zu kaufen. »Schauen Sie sich das an«, sagte er tonlos, »lassen Sie es auf sich wirken. Darf ein Staatsmann sich so hinstellen? Stellt man sich so aus? Darf einen nicht das Grausen ankommen bei dem Gedanken, es könnte einmal an einer Bremse fehlen in der Hand eines nüchternen Sachkenners, wenn der Reichswagen auf gefährliche Berg- und Talfahrten geschickt wird?«
Heinrich Koldewey und Käte Neumeier reichten einander die Photos zu, vertieften sich in die Darstellung, sagten nichts. Lautlosund warm umgab sie der behagliche Raum. Gebrauchte Teetassen aus Glas, Scheiben eines schweren Weihnachtsstollen voll Rosinen und Zitronat boten sich in silbernem Korbe an, der Rauch von Zigaretten und Herrn Koldeweys Zigarre ward von der Zentralheizung in die Höhe getragen. Annette und ihre Schwestern lachten im Nebenzimmer mit Thea Lintze und Paula Russendorff; jemand holte aus dem Lautsprecher, dem Kurzwellenband, die verschiedenartigste Tanzmusik aus England und Amerika. Hier aber blickten drei Augenpaare in die Bildnisse, die den Redner Adolf Hitler festhielten, bei hellem Deckenlicht und einer milden Tischlampe. Sie sahen dieses Gesicht, diese völlig durchschnittliche menschliche Erscheinung, in wilden Verzerrungen dargestellt, mit verkniffenen Augen, offenem Munde, Falten über der Nase, vorgeschobenen Zähnen. Besonders auffällig erschienen ihnen die Hände, die in den weitausholenden Gebärden einer Rede kaum etwas Ungewöhnliches verrieten, hier aber, von der Kamera beschworen, ganz und gar aus dem Rahmen sprangen, fast irrsinnig wirkten. Herr Koldewey legte die sechs Bildchen vor sich hin, ließ seine Blicke darüber gleiten. Schuf sich aus den Gebärden gleichsam einen Film. Käte Neumeier trat hinter ihn, beugte sich neben sein Ohr, berührte es fast mit ihrer Wange. Es standen Texte unter den Bildchen, Sprüche aus Adolf Hitlers Reden, aber sie nahmen sie kaum auf. So hätte sich Herr Daniel Schreber hinstellen können, wenn er mit den Stimmen kämpfte, die ihn plagten, wenn der »untere Flechsig« oder die Saxonen an seinen Nerven zerrten, wenn er Ordmudz und Ariman, seinen beiden Gottgestalten, beteuernd oder zornig entgegentrat. Nun war der Dresdener Senatspräsident ein viel zu wohlerzogener Mann, selbst mitten in seinem Wahne, um solches Theater aufzuführen. »Herr Oberstleutnant«, sagte Koldewey ernst, »wir müssen zu unseren Damen. Lassen Sie mir diese Karten für ein paar Tage hier, ich bitte darum. Ich bin in einer Lektüre begriffen, von der ich Ihnen erzählen möchte, wenn’s soweit ist. Sie fügt sich überraschend in Ihre Besorgnisse, für deren Mitteilung ich Ihnen als konservativer Mann und Weltkriegssoldat zu tiefst verpflichtet bin. Halten Sie mir den Sonntag nach Neujahr frei. Ich glaube schon, wir werden uns verständigen.«– »Da bin ich gespannt«, stimmte Herr Lintze zu, stand auf, zog seinen Waffenrock zurecht. »Ich habe noch sehr viel mehr im Köcher. Am zweiten Januar also zum Nachmittagskaffee, und dann absentieren wir uns in eine Ecke.«
Drittes Kapitel
Der Schrecken
Herr Koldewey, solange die Frist seines Lebens sich noch ausdehnte, vergaß nie diese Tage zwischen Weihnachten und Neujahr, in denen er den über fünfhundert Seiten starken Band durchstudierte, welchen der außerordentliche Senatspräsident Dr. Daniel Paul Schreber der Welt hinterlassen, insbesondere dem deutschen Volk, in dessen Sprache er ihn geboren. Da ein Direktor auch in den Amtsstunden Zeit hat, weil er es hoch genug gebracht, wanderte er aus der Villa hinüber und zurück, mit einer Aktentasche, wie ein Student, der Lehrbücher unter den Arm klemmt. Und am Abend ließ er regelmäßig Frau Dr. Neumeier hinausholen und zurückbringen und arbeitete mit ihr wie ein Prüfling vor dem Examen mit einem Einpauker. Es enthielt diese Tasche aber nur zwei Bücher; die »Denkwürdigkeiten« Schrebers und das Geistesgebilde Adolf Hitlers und jene sechs Ansichtskarten, auf denen, ging es nach dem Wunsch des Dargestellten, die Zukunft
Weitere Kostenlose Bücher