Das Beil von Wandsbek
Manfred Koldewey hatte aus den Kreisen der jungen, gescheiten Reichswehroffiziere berichtet, daß man dort die »Sache Spanien« als Generalprobe ansehe, um den totalen Krieg einzuüben, den Ludendorff schon geistig vorbereitet. »Wir haben keine Wahl«, pflegte er, pflegten sie zu verkünden. »Wir müssen mit den Russen zur Mensur antreten, nachdem es Bismarck unterlassen hat, der Schlacht bei Zorndorf die richtige Nachfolge, den geeigneten Nachdruck zu schaffen ...« Hatte dieser Herr Freud recht, wie Käte Neumeier immer wieder unterstrich, so gab es keinen Unterschied zwischen der Enthemmtheit des Wahns und der des Künstlers, sofern man sich in die Perspektiven dieses Wahns selber eingliederte, ihn nicht an der Wirklichkeit maß, ihn der »Realitätsprüfung« unterzog, mit den Maßen des gesunden Menschenverstandes an ihn herantrat. Dann mußte man den Wahnbesessenen von der realen Welt isolieren, damit er nicht wirklichmit Europa Weltuntergang spielte, die Mitlebenden für »hingewundert« hielt, für »flüchtig hingemachte Männerchen«, mit denen man zur Not auch Schindluder treiben konnte. Dann blieb die Rolle aller derer nicht auszudenken, die diesem Mann die Macht in die Hände gespielt hatten, einem partiell Irren die Hebel griffrecht machend, die unsere Zivilisationsmaschine steuerten. Dann mußte man ihn, Heinrich Koldewey und alle seinesgleichen im alten Europa, zumindest aber in Deutschland, der ärgsten Fahrlässigkeit anklagen, mehr noch, der Mitschuld.
Heinrich Koldewey hatte das Leben immer geliebt, auch wenn es ihm schwere Schläge versetzt, wie damals, als es ihm seine Frau nahm, dumm und aus heiler Haut, in jener letzten Grippewelle, die Deutschland nach dem Krieg überflutete. Hätte Käte Koldewey damals ganze Gummischuhe besessen, so wäre das Geschick vielleicht an ihr vorübergegangen; aber mit nassen Füßen hatte es angefangen und mit einem Sarg und drei Waisen geendet. Und jetzt saß wieder eine Käte bei ihm und verbreitete geistige Wärme, frauliche Wärme ... Zwischen jener ersten Käte und ihm hatte es an kleinen Konflikten nicht gefehlt, die mit seinem Rauchen zusammenhingen, der Zigarre; sie mochte den kaltgewordenen Dunst durchaus nicht, den das geliebte, gewickelte Kraut hinterließ. Mit dieser Käte hier würden solche Reibungen a priori wegfallen. Mit Annette verband sie wirkliche Freundschaft, und Thyra wie Ingebottel hatten sich ihr als Ärztin anvertraut in den Schwierigkeiten, die das Leben junger Menschen garnieren, seit sie nicht mehr bleichsüchtig zu sein brauchen. Diese Bleichsucht war ausgestorben, Eros und die Lebensreformer hatten sie aus dem Felde geschlagen; warum sollten die beiden Fräuleins nicht einsehen, daß auch ein Mann über sechzig nochmals heiraten konnte, wenn eine Frau ihm sonst gefiel und mit seiner Art und Weise einverstanden war? Ob Käte Neumeier freilich einwilligen würde, stand auf einem anderen Blatt; das wußte niemand. Es blieb auch eine spätere Frage. Fest stand jedenfalls, daß sie Heinrich Koldewey empfindlich gefehlt hätte, wäre sie nicht jeden Abend zu einem Butterbrot erschienen, um die Auferstehung Friedel Timmes in sich selbst immer weiter zu treiben. Adolf Hitler mußte weg. Das arbeitete sich immer deutlicherin ihren Gedanken heraus. Er durfte nicht in die Lage kommen, noch mehr von seinem Programm in die Wirklichkeit umzusetzen. Das deutsche Volk war wichtiger und größer. Aber sie wagten diese Schlußfolgerungen kaum anzudeuten, in Frageform vor sich hinzumurmeln, während Käte dabei ihre Zigarette ausdrückte und Koldewey seinen Stummel in dem wassergefüllten Untersatz des Aschenbechers ertränkte. Aussprechen mußte sie ein anderer, aber der stand schon bereit.
Als Heinrich Koldewey in jener Nacht zu Bett ging und noch wach lag, wie er pflegte, kam ihm ein Bericht in den Sinn, den ein Arzt, über Nietzsches Zusammenbruch schreibend, von jenen Tagen in Turin 1888 gegeben hatte. Wie da der von großer Aufregung getriebene Philosoph an einem Droschkenstand einem armen Pferdchen um den Hals gefallen sei, das von seinem Kutscher mißhandelt wurde, und in wilde Tränen ausgebrochen; Leute, die ihn kannten, hatten ihn zu seinem Quartierherrn gebracht, dem wahrscheinlich jüdischen Barbier David Fino – David Fein – und damit habe die Katastrophe dieses Lebens ihren Ausbruch gezeitigt. Herr Koldewey in seinem Nachthemd mit grüner Bordüre, in schwarzgraue Dunkelheit gehüllt, das Fenster leicht offen über der
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