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Das Beil von Wandsbek

Das Beil von Wandsbek

Titel: Das Beil von Wandsbek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Zweig
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Nein, Käte Neumeier! So bar des gesunden Menschenverstandes durfte man keine Gruppe auf der gesamten Erde taufen. Das Gruppendenken mochte langsamer sein, primitiver, weniger geschärft als das des Einzelnen, der Einzelnen, die die Gruppe aufbauten. Aber gewißlich war es dafür auch um so vorsichtiger, nüchterner, sachgemäßer. Ganz abgesehen von der Frage, ob dieser Herr Freud mit seiner neuen Deutung einer Geisteskrankheit recht hatte oder nicht, die Voraussetzung für Käte Neumeiers Parallele fehlte. Deutsche Industrielle, Bankiers, Politiker und Offiziere sahen sich sehr genau an, wem sie das Steuerruder in die Hand drückten, um ein beliebtes Bild des letzten deutschen Kaisers zu verwenden, der sich auf Ansichtskarten als Lotse hatte abbilden lassen, in Ölmantel und Südwester, wie er das Staatsschiff über eine umdräute See hinführte. Gewiß wollte Heinrich Koldewey die Einleitung und das Buch lesen, schon weil eine so vorzügliche Freundin davon so tief gefangen worden.Aber mit Vorbehalten, mit spöttisch blinzelnden Augen gleichsam, darüber sollte sich Käte keinem Irrtum hingeben.
    Annette, in der Nähe der Zentralheizung auf den dicken, blaugrauen Teppich gekauert, eine Schachtel Zigaretten in Reichweite und ein Aschenschälchen aus japanischer Bronze – lies Zinkguß, spottete sie – zwischen sich und den anderen – den beiden Erwachsenen, wie sie insgeheim anmerkte – Annette blickte sehr gespannt vom Vater zur Freundin, ja, das war in der Tat ein Weihnachtsgeschenk, welches der tote Herr Mengers den Koldeweys gemacht hatte als Dank gleichsam für die lange, wohlbehütete Pensionszeit. In ihrem Vater war ein Anthrazitöfchen entzündet worden, es strahlte eine immer steigende Wärme aus und verjüngte den Papa – niemand hätte das geglaubt. Aber auch Käte Neumeier – Donnerwetter! Funkelte es in ihren Augen nicht, als stelle in ihrem Kopf eine graue, einst schwarze Katze den gekrümmten Rücken hoch? Was das Denken der Gruppen anlangt, entgegnete sie etwa, darüber wisse man doch Bescheid, wenn man die Schriften eines gewissen Karl Marx gelesen habe. Das Sein bestimmte da das Bewußtsein. Die Beobachtungsgabe und Sachkritik stand im Dienste des Klasseninteresses – ja oder nein? Automatisch setzte das ein, was Freud Verdrängung nannte – ein Wegsehen von Eindrücken, die eine Wunschphantasie, die Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft, bedrohten. Einem gleichgültigen Gefreiten Hitler gegenüber wären die Herren Deutschlands sehr wohl nüchtern und skeptisch genug gewesen, um ihn auszulachen oder in eine geschlossene Anstalt zu stecken, damit man ihn dort heilte oder unschädlich machte auf Lebenszeit. Kam aber ein Retter des Klassenstaates aufmarschiert, ein Werkzeug, brauchbar zur Niederhaltung des vierten Standes: nur herein, mein Herr, hochwillkommen, Sire. Ob sie nun Napoleon I. hießen, Napoleon III., Otto von Bismarck oder General Boulanger! Nur zugegriffen, bitte.
    Herr Koldewey hatte Karl Marx nicht gelesen – leider, warf Käte Neumeier ein – und konnte dem Satz nicht beipflichten, daß ganz allgemein das Denken des Menschen von seiner ökonomischen Lage geformt werde. Das ganze Phänomen Faschismus mit all seinen Vorläufern widersprach dem – weder die Romantik,noch das Biedermeier mit all ihren Schöpfungen ließen sich so verstehen. Aber politisches Denken und Massenbewußtsein stand tatsächlich unter dem Gesetz des Gruppeninteresses. Es war wirklich nicht ausgeschlossen, daß einem Heiland gegenüber, einem Wundertäter, die kritische Prüfung aussetzte. Bei Religionen wie bei der Bildung von Sekten konnte man nur mit solchen Hilfsmitteln weiterkommen. Das Erlösungsbedürfnis des Menschen, das ihn immer wieder in die Hände von Schwärmern und betrogenen Betrügern lieferte, war offenbar ein furchtbarer Hebel, wenn dazu materielles Elend trat, wie Georg Büchner es in seinem »Danton« formulierte. War aber Italien im Jahre 22 und Deutschland im Jahre 32 materiell elend zu nennen gewesen? Waren sie mit dem Rußland von 1917/18 zu vergleichen? Da stimmte etwas nicht, wie Käte Neumeier zugeben würde. Ohee – da fuhr sie aber auf! Natürlich ließ sich das nicht vergleichen! Natürlich stimmte da etwas nicht. Wenn aber eine einst unumschränkt herrschende Schicht wieder an die Macht wollte, wie? Wenn die verhinderte Monarchie mit einem Hindenburg an der Spitze einer verhaßten Republik auf legale Weise – alles streng legal, Herr Präsident! – den Hals

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