Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Beil von Wandsbek

Das Beil von Wandsbek

Titel: Das Beil von Wandsbek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Zweig
Vom Netzwerk:
zuschnüren wollte, was dann? Wenn hier ein Mann kam, ein Rattenfänger von Hameln des Kleinbürgertums, der dieser verachteten Demokratie mit Saalterror und Stimmzetteln den Garaus zu machen versprach? Wenn man ihm gestattete, eine Privatarmee zu bewaffnen und die Zauberflöte zu blasen, mit welcher er allen Leuten das Lied vom Bäumchen mit goldenen Blättern vorgaukelte? Und wenn er auf den alten Resonanzboden zurückgriff:
    Aber wie es Abend ward,
    Ging der Jude durch den Wald,
    Mit großem Sack und großem Bart.
    Der sieht die goldenen Blätter bald;
    Er steckt sie ein, geht eilends fort
    Und läßt das leere Bäumlein dort.
    Was dann, Herr Gefängnisdirektor? Hätte der Mann ebenso wild beteuert, die Frauen seien schuld an der ausweglosen Situation, die Fleischesser, oder die Rothaarigen – wäre er dann nicht ausgelachtworden, und hätte man ihm auch dann zur Macht verholfen? Zweifellos nicht. Ihm wären kaum mehr Anhänger nachgelaufen als Herrn Häuser oder dem Weißkäsepropheten Weißenberg. Aber da ihm eine Autorität wie General Ludendorff und die Völkischen alle vorgearbeitet hatten, die Baltikumer und ihre weißgardistischen Generäle, ohne daß Lächerlichkeit sie beiseite fegte, da im Gegenteil Hunderttausende von Juden östlich der Weichsel ihr Leben hatten lassen müssen, als es galt, den Bolschewismus zu stürzen, ohne daß Europa ihnen zu Hilfe kam – war da nicht bewiesen, daß diese Seite der menschlichen Natur, dieses Vorurteil aus den religiösen Kämpfen des ausgehenden Altertums und des ganzen Mittelalters, auch heute noch einen brauchbaren Hebel darstellte, wie sich Herr Koldewey ausdrückt? »Setzen Sie in ›Mein Kampf‹ überall dort ›Saxonen‹ ein oder der ›untere Flechsig‹, wo ›Judentum‹ und ›Karl Marx‹ steht, und Sie werden sich der Einsicht nicht widersetzen können, daß zwischen dem Erlösertum des Herrn Hitler und dem des bedauernswerten, bewundernswerten Herrn Schreber durchaus Zusammenhänge bestehen. Gleichheiten, so bestürzend, daß Sie von meinem Verdacht infiziert sein werden. Eine kritische Prüfung, Dr. Koldewey, ist alles, was ich verlange, und danach wollen wir weitersprechen.«
    Ja, so stoben die Funken. Nun hatte noch niemand Heinrich Koldewey zu einer kritischen Prüfung vergeblich aufgefordert. In den Weihnachtsfeiertagen vertiefte er sich denn auch in die seltsamen »Denkwürdigkeiten« und zunächst in die Einleitung, und er merkte gleich, mit welch großem Schriftsteller er es zu tun hatte, und daß es einen Verlust bedeutet hätte, wäre er an dieser Erscheinung weiterhin vorbeigegangen. Das war gedacht und war geschrieben mit einem Gefühl der Verantwortung, der Kühnheit und der Vorsicht, wie er sie ähnlich in neuerer Zeit nur bei Jacob Burckhardt getroffen. Eine überaus schwierige Materie wurde hier gehandhabt, nicht mit dem Blitzlicht und den Blitzen seines Friedrich, sondern mit der nüchternen und gediegenen Sachkunde eines Naturbeobachters, dem freilich nicht die kleinste, einmalige Besonderheit seines Falles entging, und der sie, wie Galilei die Schwingungen jener pendelnden Lampe, aufallgemeine Prinzipien zurückzuführen verstand. Daß man ein ebensogroßer Schriftsteller wie Nietzsche sein konnte unter ausdrücklicher Ablehnung alles Geistreichen, Musischen, dichterisch Beschwingten, ein Naturwissenschaftler des Seelischen, das mußte der lesende Koldewey mit aufrichtigem Erstaunen an sich erfahren; er vermochte diese Einleitung nicht aus der Hand zu legen, so spannend war sie entworfen und durchgeführt, ja er mußte sie sogleich ein zweitesmal beginnen.
    Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr waren dafür vorherbestimmt, alte heidnische Feiertage, während denen die Dämonen freies Spiel hatten, zumindest freien Umgang mit den Menschen. Annette hatte, wie jedes Jahr, einen großen Christbaum geschmückt und gerüstet, mit Ketten und Netzen aus Buntpapier und Lametta, mit vergoldeten Nüssen, kleinen Tieren aus Marzipan und vielen Watteflocken, welche die Schneeflocken ersetzen mußten, die sich wieder einmal, o Hamburger Matschwetter, weigerten, liegen zu bleiben. Der Garten um das Haus troff; wo sich die Vögel mittlerweile aufhielten, wußte niemand. Annette und ihre Schwestern dagegen waren häuslicher als je. Wer gänzlich abwesend blieb, war Hans Peter Footh. Statt seiner traf ein lustig geschriebener Brief aus der Hohen Tatra ein, aus Nove Schmokovec oder Alt-Schmecks, wo er sich zum Skilaufen aufhielt, und ein

Weitere Kostenlose Bücher