Das Beil von Wandsbek
unterirdischen Gedankenverbindung folgend, fügte sie wie abschiednehmend hinzu, Plaut habe immer gesagt, Auswandern komme gleich vorm Tode, da mußten wir ja jetzt beinah darüber Bescheid wissen. Stine, die inzwischen auf dem Röhrchen das Wort gelesen hatte, welches sie auf Frau Dr. Neumeiers Treppenstufen auswendig gelernt hatte, erschrak vor dem Finger Gottes; denn sie hatte vergessen, davon zu sprechen, bestürmt von all den Eindrücken, alten und neuen. Veronal! Das giftige Zeug! Und ohne ihr Dazutun! Wie das mit dem Tode wohl sein möchte, sagte sie, indem sie es in ihr Täschchen versenkte, daß er verschlungen sei in den Sieg, stand doch in der Schrift. Wie konnt er dann so schlimm sein ... Mit so viel Sterbensangst verquickt. Sie sehe viel Tote,erklärte Frau Plaut. Leichen zu waschen, sei eine religiöse Pflicht. Komisch, daß sie alle mehr oder weniger erlöst aussahen. Der Makler Kley habe sein ganzes Leben nicht so sanft gelächelt, wie als man ihn gefunden, den Pistolenlauf am Herzen. Und Frau Mengers, die sich vor drei Wochen erhängt habe, weil’s mit ihrem Visum nach Irland immer wieder nicht klappte, Frau Mengers habe ausgesehen fast wie ein junges Mädchen. Freilich war sie von ihrem Strick schon abgenommen worden, aber sie hatte ihn gut eingeseift, es mußte blitzschnell gegangen sein. Die irische Regierung sollte ihren anderen Sohn als Kommunisten eingesperrt und die Einreise für seine Mutter widerrufen haben. Gott allein wußte, ob da alte Freundschaft mit den Nazis dahinter steckte, noch vom Weltkrieg her, oder eigene Angst der katholischen Herren – Papisten galten ja in Hamburg nie für voll. Kein Wunder jedenfalls, wenn einer geplagten Frau in mittleren Jahren nach all dem Vorangegangenen schließlich der Lebensnerv riß ...
Stine sah nachdenklich zur Decke empor. Der Name Mengers erinnerte sie an irgend erwas aus der letzten Zeit, aber sie kam nicht darauf. Ihr Kopf wurde wirklich schwach ... »Möchten wir nur alle ausruhen können, gnä’ Frau«, damit verabschiedete sie sich. Und – »Ja, Ruhe ist bloß dort«, nickte Frau Plaut, bereit, ihre silbernen Bestecke in leinene Behälter einzurollen. Stine aber kehrte durch den langen, dunklen Korridor – erst die Furcht, dann der Tummelplatz der Kinder – in die Küche zurück und bat Line um ein paar Butterschnitten, denn sie mußte jetzt auf einer der Bänke in der Edmund-Siemers-Allee auf ihren Mann warten, und wer wußte wohl, wann der von den Viehhöfen wieder freikam.
Es war so hübsch, auf dieser Bank zu sitzen, schattende Bäume über sich, grünen Rasen mit Gänseblümchen vor sich wie auf einem freundlichen Kirchhof. Was Hamburg für ’ne schöne, saubere Stadt war mit den hellen, grauen und rötlichen Häusern, den Radlern, den Autos, und wie Studenten und Studentinnen aus dem Gebäude strömten, als es von St. Johannis Mittag schlug. So schön und friedlich hatte Stine schon lange nicht mehr unter freiem Himmel gesessen, in das gute Fettbrot gebissen, mit gefülltemGänsehals belegt – nur nach einem kalten Glas Milch verlangte es sie dabei, schuldbewußt, weil es doch verboten war, milchig und fleischig durcheinander zu essen. Hier auf dem Rasen machte es noch einen Unterschied, ob jemand jüdisch oder christlich hieß, und die Nazis hatten daraus ja ein wahres Teufelsspiel gemacht, wenn so brave Leute wie Plauts, die es gar nicht wollten, das Land räumen mußten. Aber unter dem Rasen, vor dem ewigen Richter, war der Unterschied bestimmt gleich Null, wie Lehrer Reitlin immer sagte, wenn er »so gut wie nichts« ausdrücken wollte. Ja, sie nahm viele Dinge an, Stine Teetjen, aber eigensinnig war sie außerdem auch. In ihr Haus, ihr Schlafzimmer ließ sie sich nicht hineingucken, und wenn’s dem Albert nicht gelang, die Hände der Lehmkeschen davon abzulösen ... Dabei schlief sie ein, ganz friedlich auf der Bank sitzend, im frischen Wind, umsummt von Fliegen, die sich für das Fettpapier auf ihrem Schoße interessierten. Und siehe da, Großmutter Geisow kam aus der Johanniskirche mit ihrem Gebetbuch und ihrem straffen, grauen Scheitel, der ganz natürlich grau war und später weiß, und die vielen Fältchen um die klugen Augen – Morgensonne bleicht die Wäsche und bräunt die Haut, hatte sie immer gesagt. Wer wird Angst vorm Strick haben, Stine, lachte sie, wat de Bur nich kennt, det freet hei nich, und wenn sich selbst Damens am Fensterkreuz aufhängen ...! Stine sah das Grün und die Gräber, die hübschen
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