Das Beil von Wandsbek
ausgestreckten Armen greifen zu können. »Und ich hab den Albert in den Hafen geschickt«, rief sie klagend und setzte sich auf das heiße Blech nieder, den Rücken an den schrägen Ziegelteil des rückwärtigen Giebels gelehnt. Ach, es war gut, nicht allein zu sein und mit diesem Jungen hier, dieser treuen Seele mit den glänzenden, steingrauen Augen, alles besprechen zu können, was an ihr nagte. Zunächst händigte sie ihm den Brief aus und einen Groschen für die Marke, es konnte sein, Albert brachte von der »Eleonora Kröger« so günstigen Bescheid, daß sie in zwei, drei Tagen, vielleicht schon heute oder morgen abend, alles stehen und liegen lassen mußten. Darum sollte die Geesche so freundlich sein, jeden Morgen früh bei Teetjens zu klopfen, ehe sie zur Arbeit aufbrach, und den Brief in den Kasten werfen, wenn sich niemand meldete. Dann würden Albert und sie ihre Schlüssel in Lehrer Reitlins Türschlitz werfen – er wußte Bescheid, daß Teetjens möglicherweise plötzlich auszogen. »Stine«, stöhnte Tom, »daß du wegziehst. Wann sehen wir uns denn wieder?« Und er griff nach ihrem Knöchel, den sie ihm diesmal nicht entzog. »Auf alle Fälle im Himmel«, lächelte sie und deutete in die gelblichgraue, heiser stöhnende Feste. »Was da oben«, sagte er, »hier will ich dich haben, du schöner Stern, hier will ich dich lieben, sollst du was aus mir machen, mir Strandholz und Wrack.« Und da ihre Schultern in gleicher Höhe lehnten, umschlang er die ihrigen, preßte sie an sich, küßte sie mit heißen Lippen fest auf den Mund. Stine wunderte sich, daß sie es geschehen ließ, aber sie wehrte sich nicht, dachte wohlig, was für kräftige Arme er habe, und daß sie jetzt also einen Liebhaber besitze mit einem ganz anderen Schnurrbärtchen als dem gewohnten Alberts. Dann schob sie ihn weg, schüttelte den Kopf über sich selbst und mahnte ihn: »Sei doch vernünftig, Tom.« – »Ich bin nicht vernünftig«, rief er, »ich lieb dich über alle Maßen! Ich hab einen Stern im Arm gehalten! Das kannst du mir nicht mehr nehmen.« – »Gib mir lieber einen Rat«, wehrte sie ihn ab. »Ich kann der Lehmken mein Schlafzimmer nicht gönnen, lieber zünd ich’s an! Mag aber doch das Haus nicht in Brand stecken, wenn ich’s mit Petroleum übergieße. Das brennt dann doch lichterloh. Die Deckenbalken sindalt, die Dielen auch. Wie ich das Feuer beschränken könnt, wollt ich dich fragen.«
Er sah sie mit großen Augen an, beinah glücklich lächelnd. »Und ich dachte immer, du wärst viel zu brav, ließest dir alles gefallen, Gott sei Dank, du bist ’n Mensch. Jetzt kann ich dir auch mein Gedicht vorlesen. Mein letztes vor paar Tagen. Wie der Goebbels so im Lautsprecher geheult hat vor Wonne, daß sein Führer jetzt die Sudetendeutschen heim ins Reich bringe – als ob wir nicht in der Schule gelernt hätten, wie die Reichsgrenzen verliefen. Paß auf, die kriegen auch noch Prag, dacht ich, und dann ist Schluß. Denn daß die Sowjets unseren Adolf nicht nach Warschau lassen, das weiß doch ein jeder.« Stine zog ihre Brauen hoch: was hatte sie mit Warschau zu tun? Wo lag das überhaupt? Da hatte doch ihr Albert von erzählt, das war doch im Krieg gewesen. Aber Tom war davongerudert und kehrte mit einem Blatt zurück, das er triumphierend schwenkte – ganz gelb sah es aus, obwohl ’s doch sicher weiß war wie die anderen Bogen, auf denen er schrieb. Er pflanzte sich vor ihr auf, die Mienen gespannt, und las mit lauter Stimme, die im Brustkasten widerhallte, um das Schnaufen des Windes zu übertönen:
»Deutschland, du gehst jetzt deinen Gang
mit Heilgeschrei und Hochgesang
um dreißig Silberlinge.
Dein Goebbels, das Hyänchen, lacht,
dein Schicksal hat schon Übermacht,
singe, mein Deutschland, singe.«
»Oh du«, rief Stine, »du bist wohl verrückt?« Aber Tom fuhr fort: »Zweite Strophe.«
»Der Krieg sperrt schon den Abgrund auf,
dein Blindenführer führt im Lauf
ins Licht die Schmetterlinge.
Es lügt dein Ley, dein Göring prahlt,
du hast sie alle hoch bezahlt,
springe, mein Deutschland, springe.«
»Und nu kommt das letzte!«
»Und krachst du in den Abgrund hin,
Deutschland, zerbrich den Würgersinn
mit andern faulen Beinen.
Wirst von den Toten auferstehn,
Geripp, Gerippe um dich sehn,
Deutschland, dann wirst du weinen,
voll Scham an deine Arbeit gehn –
Nimm deinen Mut und meinen!«
Es huschte ein Blitz über den Himmel, aber er sah es kaum, er blickte gespannt in Stines
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