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Das Beil von Wandsbek

Das Beil von Wandsbek

Titel: Das Beil von Wandsbek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Zweig
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mußte natürlich alles andere weichen. Sie würde Papa schon um dreiviertel zwölf in der Kunsthalle abliefern, wo die Lichtwarkstiftung eine Ausstellung des merkwürdigen Vorwegnehmers Karl Blechen veranstaltete, der die »Semnonen am Müggelsee« gemalt hatte, als seine Kollegen alle nazarenerten, aber mit einem malerischen Griff in die Zukunft – einfach entartete Malerei. Um halb zwei würde man doch zurück sein, nicht wahr? Einen Fahrgast? Selbstverständlich. Ob Herr Koldewey vielleicht einen abgelegten Anzug besitze aus warmem Stoff? Annette wollte nachsehen. Eigentlich haben Männer immer Anzüge, die man ihnen wegnehmen sollte.
    Käte Neumeier hatte sich beim Telephonieren sorgfältig beobachtet,da ihr Frau Lehmkes Augen nicht gefielen, wie sie von ihrem Sitz hinter der Theke das Gespräch der Besucherin überwachte. Aber aus den Worten, die leichthin und munter in die Sprechöffnung fielen, vermochte niemand zu entnehmen, um welche Art Mann und Maske es sich gehandelt hatte, ob um einen Ball oder eine figürliche Redewendung. Diese Frau Lehmke gehörte bestimmt nicht zu den Harmlosen des Viertels. Sie hatte, wenn’s nottat, Klauen und Zähne. Wenn man es einrichten konnte, sie in den Rachefeldzug einzuspannen ... Und Käte Neumeier merkte, während sie das Gespräch bezahlte und zur Elektrischen eilte, daß in ihr etwas planvoll arbeitete. Sie wußte weder was, noch nach welcher Richtung – aber es bedeutete nichts Gutes für den Maskenmann, wer immer er war ...
    Für Tom Barfey bedeutete, das sagte er sich strahlend, dieser Oktobervormittag einen Höhepunkt des Lebens. Seine freiwilligunfreiwillige Zitadelle verlassen dürfen, durch die Straßen Hamburgs getragen zu werden in einem schönen, grauen, blitzend gepflegten Wagen, auf dem Notsitz hinten in dem abgeflachten Heck, so daß niemand hätte vermuten können, mit seinem Unterkörper sei irgend etwas falsch oder schief gegangen, das war eine Wiedergeburt, eigentlich mehr: eine Höhergeburt, wenn man so sagen konnte. Die Damen hatten freilich Augen gemacht, als er seine rollende Plattform zu allererst in dem »Briefkasten« verstaute, bevor er sich selber hineinschwang; was mochten sie wohl gedacht haben, wie er sich in dem weiten Tierpark würde fortbewegen können? Daß man den Wagen beim Eingang zurücklassen mußte, wußte doch ein jeder; die Jaguare und Straußenvögel hätten sich vor Angst oder Neugier sicher Knoten in die Hälse gestaunt, und all das kleine Raubzeug wäre in seinen Höhlen verschwunden, wenn ein Auto daran vorüberschnüffelte. Übrigens saßen Weste und Jackett, welche die junge Dame als Geschenk ihres Vaters mitgebracht, dem Oberkörper Toms wie angemessen; Herr Koldewey mußte damals in seiner schmächtigsten Periode gelebt haben, als er sich nach der Schaffung der Hamburger Goldmark (aus Papier) diesen englischen Wollstoff kaufte, graublau, ein wenig kariert, ein munterer Homespun. Dem Tom Barfey, das sah Annette sofort, würde er noch weiterezehn Jahre dienen, und die Hose gab Ausbesserflicken her, länger, als der Anzug lebte. Der sonderbar verwachsene Mensch hatte Annette ein leichtes Grausen anwehen lassen; in der Phantasie nahm sich so etwas viel leichter und schmuckvoller aus; junge Dame, einen armen Krüppel spazierenfahrend – die Volksgemeinschaft, wie sie im Buche stand. Auf alle Fälle entschädigte das Gesicht des Jungen und die Art, wie er da hinten drinsaß, für manches Unbequeme; unleugbar schöne graue Augen, die die Welt in sich hineinrissen.
    Käte Neumeier ihrerseits kam erst jetzt zum Bewußtsein, welch leidenschaftlicher Übereilung sie sich hier schuldig machten, während das Adlerchen nach Westen glitt. Wie war sie nur auf die Besessenheit verfallen, man werde in Stellingen jemanden treffen, mit dem man sich nicht verabredet hatte. Die Anlage mußte inzwischen gewachsen sein. Schon das letztemal bedeckte sie über einen Quadratkilometer, mit ihren Gehegen, künstlichen Felsen, Straßen, Wegen und Vogelwiesen. Sonntagmittag daselbst ein Ehepaar suchen und finden, verlangte zum mindesten viel Zeit. Annette hatte von vornherein nur eine Stunde für diesen Ausflug zur Verfügung gestellt. Wo war Käte Neumeiers gesunder Menschenverstand, als sie nicht nur zusagte, sondern auch den armen Tom mit in die überaus ungeschickte Verabredung verstrickte? Der Junge würde einen Blick auf die Löwenfelsen tun oder auf die Steinterrassen vor dem großen Teich mit den Pinguinen und Walrossen und nichts weiter

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